Kerstin Decker: "Franziska zu Reventlow"

Eine Biografie


Kerstin Decker hat bereits einige Biografien über Frauen verfasst, dazu zählen jene über Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salomé und Elisabeth Förster-Nietzsche. Dabei war ihr wichtig, die Umfelder, in denen sich die Porträtierten bewegt haben, zu beschreiben, und zu betonen, was diese Frauen in Bewegung setzen konnten. Franziska zu Reventlow ist durch Zuschreibungen wie u.A. "der Stern der Münchner Boheme, Virtuosin der freien Liebe, Avantgardistin der Alleinerziehenden" (Kerstin Decker, Klappentext auf Rückendeckel) mit zahlreichen Schlagwörtern geziert. Kerstin Decker zeigt den Werdegang der geborenen Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Comtesse zu Reventlow.

Die Autorin lässt also die Leser die Entwicklung Franziska zu Reventlows mitverfolgen. Als Tochter des preußischen Landrats Ludwig Graf zu Reventlow und Emilie Gräfin zu Reventlow, geborene zu Rantzau, wuchs sie in Husum, wo auch Theodor Storm geboren wurde, auf. Dieser schickte der Mutter eines seiner Husumer "Wasserreih"-Gedichte (S. 21).
Kerstin Decker beginnt mit einschneidenden Erlebnissen der Kindheit. Franziska zu Reventlow erkennt bereits im Alter von sechs Jahren, dass es einen Unterschied macht, als Frau geboren zu sein, und ist enttäuscht, dass sie, im Gegensatz zum Versprechen ihres Kindermädchens, an ihrem sechsten Geburtstag nicht zu einem Jungen wird. Die Kämpfe mit ihrer Mutter um Eigenständigkeit werden heftiger, ihre Mutter wünscht, sie zu einer höheren Tochter zu erziehen, sie selbst kämpft um Selbstbestimmung, um eigene Gedanken formulieren zu können. Die Anlässe für die Auseinandersetzungen sind unterschiedlich, einer der Höhepunkte in Husum ist, dass die Mutter ihr Tagebuch findet und liest (S. 31), ein anderer, als sie bereits in Lübeck leben, und die Mutter Franziskas Briefe an einen jungen Mann findet.

Bis zum Bruch mit ihren Eltern ist ihr jüngerer Bruder, den Franziska "Catty" nennt, Bezugsperson, mit dem sie ihre Geheimnisse teilt, und der sie auch in einen Lesezirkel, der sich Ibsen verschrieben hat, einführt, und später auch mit Nietzsches "Zarathustra", der zu ihrer "Bibel" wird (S. 53), bekanntmacht.
In Lübeck knüpft sie auch erste Kontakte zu jungen Männern und macht erste sexuelle Erfahrungen. Ein Kompromiss mit ihren Eltern, durch den Besuch eines Lehrerinnenseminars eigenständig zu werden. Dieses Vorhaben scheitert daran, dass sie zwar die Ausbildung abschließt, aber ihre Eltern sie entmündigen, weil sie den heimlichen Kontakt zu Karl Schorer nicht goutieren. Aus der Verbannung in einem Pfarrhaus glückt ihr die Flucht zu einer Freundin, und Franziska lernt den Rechtsassessor Walter Lübke kennen, der sie bittet, ihn zu heiraten.
In der Zwischenzeit erkrankt ihr Vater und stirbt; es gelingt ihr, zumindest über das Grab des Vaters hinweg der Mutter die Hand zu reichen (S. 72), jedoch bricht daraufhin der Kontakt zu ihrer Mutter und den Geschwistern nahezu vollkommen ab.
Franziska nimmt den Antrag Walter Lübkes an, weil er ihr die Möglichkeit bietet, nach München zu gehen, um Malerin zu werden, indem er ihr Unterkunft und Schule bezahlt. Hier vollzieht sich bereits der im Buch "Von Paul zu Pedro" beschriebene Hang zu immer wechselnden Amouresken, der ihr den Spitznamen "Skandalgräfin" einbringen wird.

In München angekommen, wird sie in den Kreis der Künstler aufgenommen, das Café "Luitpold" wie auch die Wohnungen der Künstler sind Treffpunkte, in denen geredet, diskutiert und getrunken wird, und Schwabing wird zu einem geflügelten Wort.
Die Zeit ist geprägt vom Dionysischen (S. 84) und Franziska lernt, ihr sexuelles Verlangen zu stillen. Kurze Zeit darauf erwartet sie ein Kind, heiratet aber Walter Lübke, der nicht der Vater des Kindes ist, und zieht nach Lübeck. Sie verschweigt ihm sowohl die Schwangerschaft als auch die Fehlgeburt. Franziska wünscht daraufhin, wieder nach München zurückzukehren und den Malunterricht erneut aufzunehmen.
Dort wiederholen sich die Exzesse, und sie notiert ihre Abenteuer in ihrem Tagebuch. Später erzählt sie ihrem Mann davon, der sie daraufhin verlässt. In dieser Zeit beginnen ihre gesundheitlichen Probleme, und sie unterzieht sich einigen Operationen. Trotz der körperlichen Schwäche, und um sich aus der finanziellen Not zu befreien, wird sie ein Mädchen von Madame X, die ein gehobenes Bordell betreibt. Madame X ist ganz erpicht auf eine junge Frau, die eine aristokratische Erziehung genossen hat. Franziska beginnt auch, Artikel für die Zeitschrift "Simplicissimus" zu schreiben.
Die Ehe mit Walter Lübke wird geschieden, und Franziska erwartet wieder ein Kind. Die Konstanten sind ihre Geldprobleme, die gesundheitlichen Schwierigkeiten und die wechselnden Bekanntschaften bzw. ihre Unfähigkeit, sich fest zu binden.
Eine andere Facette tut sich durch die Freundschaft zu Rainer Maria Rilke (S. 111) auf, der nach München gekommen ist, um zu studieren, der sie auch während ihres Aufenthalts am Bodensee besucht. Ihre Situation ändert sich auch nicht durch die Geburt ihres Sohnes Rolf. Ludwig Klages, ein langjähriger treuer Wegbegleiter, der leidenschaftliche Liebe für sie empfindet, die jedoch nicht erwidert wird, fungiert als Vormund ihres Sohnes (S. 206). Durch ihn kommt Franziska in Kontakt mit dem Kosmikerkreis: Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und auch Stefan George und der Gedankenwelt Johann Jakob Bachofens.
Die Ideen dieses Kreises sind kritisch zu sehen, und darauf weist auch Kerstin Decker hin (u. A. S. 219), da diese eine Form des esoterischen Rassismus darstellen würden.

Franziska zu Reventlow verdient ihren Lebensunterhalt mit Übersetzungen, als Reisebegleiterin eines Paläontologen nach Samos (S. 174 ff), später hat sie kurzzeitig auch eine Mäzenin (S. 259), die ihr monatlich eine Zuwendung schickt. Diese Einnahmen sind nicht beständig und werden zudem von Bacchanalen zur Faschingszeit unterbrochen, deren Folge weitere Operationen und Sanatoriumsaufenthalte sind.
Franziska verarbeitet dies u. A. im schon erwähnten Roman "Ellen Olestjerne", "Herrn Dames Aufzeichnungen" und in den Ausgaben des "Schwabinger Beobachters".

Schlussendlich schöpft sie noch einmal Hoffnung, als sie erfährt, dass Baron Alexander von Rechenberg-Linten junior, ein chronischer Trinker, unter der Bedingung einer standesgemäßen Verbindung sein Erbe antreten kann. Sie werden handelseinig, jedoch zweifelt der Vater an ihrer Integrität, obwohl er ihren Stand als Gräfin anerkennt.
Das letzte einschneidende Erlebnis ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und Franziskas Angst um ihren Sohn, als Soldat in den Krieg zu ziehen. Sie versuchen, in die Schweiz zu flüchten, um zu erreichen, dass auch Rolf die Schweizer Staatsbürgerschaft bekommt.
Der Antrag wird abgelehnt, und er wird im Jahr 1916 einberufen. Rolf gelingt es im Sommer 1917 zu desertieren und in die Schweiz zu gelangen. Franziska zu Reventlow ist glücklich, dass sich ihr Kind in Sicherheit befindet.
Sie stirbt am 26. Juli 1918 in Locarno an den Folgen eines Fahrradunfalls.

Kerstin Decker geht auch auf jene Umstände ein, unter denen die Romane "Ellen Ollestjerne", gedeutet als "unmittelbar autobiographische Erinnerungsskizze an diese Zeit" (Anmerkung 1, S. 361), "Herrn Dames Aufzeichnungen", "Von Paul zu Pedro" und "Der Geldkomplex" entstanden sind, und verwebt diese mit dem Leben oder eher Überleben Franziska zu Reventlows. Die analytische Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit den Briefen und Tagebucheintragungen Franziska zu Reventlows sowie mit ihren Romanveröffentlichungen. Michael Schardt hat im Jahr 2004 im Igel-Verlag Oldenburg eine fünfbändige Ausgabe der "Sämtlichen Werke, Briefe und Tagebücher" herausgegeben (S. 378).
Das Buch beinhaltet zudem ein Nachwort, Anmerkungen, welche die Fußnoten umfassen, und ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur. Diese eröffnet die Möglichkeit, Franziska zu Reventlows Werk kennenzulernen oder Kenntnisse zu vertiefen, andere Biografien zu Rate zu ziehen, oder ihren Nachlass, der sich im Archiv der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia befindet, zu begutachten.

(Christian Rohracher; 07/2018)


Kerstin Decker: "Franziska zu Reventlow. Eine Biografie"
Berlin Verlag, 2018. 384 Seiten.
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