Martin Prinz: "Die unsichtbaren Seiten"
Der
Roman "Die unsichtbaren Seiten" von Martin Prinz, erschienen im Insel
Verlag, liest sich als Selbstverortung bzw. als autobiografische
Topografie. Der Autor stellt sich Grundfragen: "Was prägt
einen Menschen?", "Wie entwickelt sich ein Mensch zu einer
eigenständigen Person?", und er antwortet darauf
fragmentarisch, indem er Eindrücke und Erinnerungen seiner
Kindheit wiedergibt, familiäre Hintergründe zu
erklären versucht, und auch die Geschichte des Ortes, in dem
er aufgewachsen ist, miteinbezieht.
Dem
Beginn
seiner Erzählung wohnt eine besondere Anziehungskraft inne:
"Ich bin der König. In der Pausenhalle ein Bub, der
drehte sich im Kreis. (...) Ich bin der König von Lilienfeld.
Sonst war es still. ( ...) Er war acht Jahre alt und musste in die
Klasse zurück." (S.11)
Es wirkt wie ein Märchen, das stark gebrochen wird, und damit
die Realität noch mehr durchscheinen lässt. Diese
Szene spielt im Jahr 1981 in jenem Ort, wo der Großvater des
Autors über dreißig Jahre lang
Bürgermeister war.
Der Roman ist in fünf Abschnitte unterteilt, durch die der
Autor die Intensität seiner Auseinandersetzung mit sich selbst
forciert. Diese Abschnitte haben keine Überschriften, aber sie
ähneln Schichten, die wie Erinnerungen
übereinanderliegen und mittels Wiederholungen Details aus
einem anderen Blickwinkel zeigen.
Der erste Abschnitt zeigt seine Welt mit einem naiven Blick und die
Oberfläche, dazu zählen sehr detailreiche
Beschreibungen des Ortes Lilienfeld und der Umgebung, eine erste
Darstellung der Familienkonstellation.
Im zweiten Abschnitt weist der Autor auf die ersten Risse in diesem
Bild hin. Eine Facette davon ist jenes Loch, das die erste Seite seines
Schulheftes prägt, und ein Sinnbild für den Roman
darstellt. Das Loch selbst ist nicht sichtbar, aber dessen Umgebung
kann durch die Beschreibung der Ränder vermittelt werden. So
erzählt er anhand der Lebensläufe seiner
Großmutter väterlicherseits, die, nachdem sie ihre
Arbeit, vor allem Näh- und Handarbeiten, nicht mehr erledigen
konnte, den Lebenssinn verlor und depressiv wurde, und anderer Frauen
derselben Generation; die Diskriminierung im Alltag. Eine weitere
Facette ist das Aufwachsen mit seiner Schwester und die
unterschiedliche Wahrnehmung der Konflikte ihrer Eltern.
Im dritten Abschnitt geht er auf die Bedeutung von Sport innerhalb der
Familie ein, vom amateurhaften Laufen bis hin zum Bergsteigen und
Profifußball, und auf seinen Versuch, Licht in die Herkunft
seiner Großmutter väterlicherseits zu bringen. Dabei
spielen die österreichischen Gefangenenlager nach dem Ersten
Weltkrieg eine Rolle.
Im vierten Abschnitt nähert sich der Autor der schwierigen
Beziehung seiner Großeltern mütterlicherseits an. Er
vermutet als einen Grund für die Probleme die Abwesenheit des
Großvaters während der Geburt des ersten Kindes,
weil sein Großvater am Ende des Zweiten Weltkriegs in
Deutschland in Kriegsgefangenschaft geriet.
Der letzte Abschnitt handelt vom Abschiednehmen von der Generation der
Großeltern und von seiner Entscheidung, bewusst mit ihren
Erinnerungen umzugehen, weil er bestimmte Wesenszüge,
Bewegungen, die er von seinen Großeltern kennt, an seinem
eigenen Sohn wahrnimmt.
Dieser Roman zeigt die Schwierigkeiten, aber auch die Spannung,
Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert zu erzählen. Dabei
kommen einige Details ans Tageslicht, während andere Seiten,
die vorher sichtbar sind, verschwinden, andere unsichtbar bleiben. Die
Erinnerungen sind Teil des Menschseins, sie sind
generationenübergreifend und abhängig vom Blickwinkel
und können während des Lebens ihre Bedeutung
verändern. Sie können in Erzählungen geformt
werden.
Martin Prinz als Autor dieses Romans bietet eine Möglichkeit
der Realisierung solcher Erzählungen an.
(Christian Rohracher; 06/2018)
Martin Prinz:
"Die
unsichtbaren Seiten"
Insel, 2018. 221 Seiten.
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Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in
Lilienfeld (Niederösterreich), studierte Theaterwissenschaft
und Germanistik und lebt als Schriftsteller in
Wien.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Die letzte Prinzessin"
Als Elisabeth Petznek 1963 in Wien stirbt, werden auch die scharfen
Schäferhunde in ihrem Bett ruhig. Knapp 80 Jahre ist sie
geworden. Jähzornig, verletzlich, unbeherrscht, offenherzig,
schroff und eigensinnig. Eine Frau, die ihr ganzes Leben weder in
die
ihr zugedachten noch in die von ihr ersehnten Rollen gepasst hatte.
Anlässlich ihrer Geburt im Jahr 1883 wurde sie als Enkelin
Kaiser Franz Josephs noch mit Geschützsalven,
Fackelzügen und Aufmärschen gefeiert, 80 Jahre
später könnte sich die Situation nicht
stärker von jener des imperialen Pomp unterscheiden. Sie hatte
mit allem gebrochen, was ihre Herkunft einmal bedeutete. 1948 hatte
sie
zum zweiten Mal geheiratet: Leopold Petznek, ihren
langjährigen Lebensgefährten, einen Lehrer und
sozialdemokratischen Politiker; der erste Mann, der nicht vor ihr
kapitulierte.
Der Roman erzählt die Lebensgeschichte einer
verwöhnten Enkelin, Habsburgerin
und Sozialistin, einer vierfachen Mutter und Salondame, die ebenso
großherzig und charmant wie eigensinnig sein konnte. (Insel)
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Leseprobe:
Ich bin der König. In der Mitte der Pausenhalle ein Bub, der
drehte sich im Kreis. Die Rauledersohlen seiner Hausschuhe setzten
tappend am geschliffenen Steinboden auf. Ich bin der König von
Lilienfeld. Sonst war es still. Der König von Lilienfeld trug
ein Hemd mit großen blau-weißen Karos,
darüber einen Pullunder sowie Cordhosen. Seine dicken
Brillengläser vergrößerten seine Augen. Er
glotze, hatte die Lehrerin im Jahr davor am zweiten oder dritten
Schultag verkündet und ihn auf die hinterste Bank versetzt,
die sie Eselsbank nannte. Der König von Lilienfeld sah stolz
über den Marmorboden
der Pausenhalle. Er war acht Jahre alt und musste in die Klasse
zurück.
Zu meiner Kinderzeit waren in Lilienfeld noch vom Weltkrieg
zerschossene Hausfassaden zu sehen. Dafür fiel im Winter
genügend Schnee, um an Sonn-, Feier- oder Ferientagen
unzählige Wiener oder St. Pöltner auf den kleinen
Skiberg Muckenkogel zu locken. In Lilienfeld gab es ein
Modegeschäft, eine Glaserei, sieben Greißler, neun
Wirtshäuser, ein Spital, ein Sägewerk, drei
Fleischer, einen Optiker, ein eigenes Obst- und
Gemüsegeschäft, fünf
Fischteiche, einen Schneider,
einen Kohlenhändler, zwei
Schmiede, einen Bestattungsunternehmer, eine Fahrschule, eine
Apotheke,
ein Fotogeschäft, die Arbeiterkammer und die
Wirtschaftskammer, die Bezirkshauptmannschaft, das Arbeitsamt, ein
Spital, drei Kindergärten, eine Volksschule, eine Hauptschule,
die Landwirtschaftsschule, die Berufsschule, ein Gymnasium, einen
Puff,
vier
Schlepplifte und einen Sessellift, das Kaffeehaus, einen Konditor,
einen Holzschneider und ein Gemeindeamt. Hier war mein
Großvater im Jahr 1981 seit über dreißig
Jahren Bürgermeister.
Der König von Lilienfeld hielt den Schalter der Bettlampe jede
Nacht zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger,
den hellen Lichtkreis
möglichst eng um das Buch vor ihm. Glühbirne und
Lampenschirm erwärmten die Seiten und die Finger manchmal
derart stark, dass das Papier einen Geruch nach Alleskleber, Leim
und
etwas undefinierbar
Breiigem ausströmte. Sein Reich erstreckte sich bis zu jener
Grenze, ab der seine Schwester, deren Bett in Längsrichtung an
seines anschloss, genügend Dunkelheit für sich und
ihren Schlaf hatte. Solange das gewährleistet war, hielt sie
still. Während die Eltern, wenn sie unten in Küche
oder Wohnzimmer nicht stritten, stets aufs Neue versuchten, die
knarrende Holzstiege sowie den im Kinderzimmer des Lesens
Verdächtigten auszutricksen, was ihnen all die Jahre nicht
gelang. Bis heute spüre ich selbst als Erwachsener die Rillen
des Schalters an der Fingerkuppe. Wenn der Lesende damals
schwitzte,
wischte er sich den Fingerballen ab, um nur ja nicht abzurutschen,
und
fühlte stets Schwindel angesichts des Sogs, mit dem ihn die
Geschichten wie in Höhlen hineinzogen. So sehnsüchtig
war er, so glücklich darin und bedürftig danach. (...)