Hans Platzgumer: "Drei Sekunden Jetzt"


Drei Sekunden Erkenntnis

Hans Platzgumers voriger Roman "Am Rand" war ein äußerst gelungenes Psychogramm eines am Ende angekommenen Protagonisten, eines Protagonisten, der vor seinem letzten Schritt in vollkommene Starre verfällt. Auch in "Drei Sekunden jetzt" ist eine ähnliche Erstarrung festzustellen. Anders als in "Am Rand" natürlich und doch sehr ähnlich.

François Toulet ist der Protagonist dieses Romans. Mit dreizehn Monaten von seiner Mutter ausgesetzt, wird er von der bürgerlichen Familie Toulet adoptiert. Während die Adoptivmutter vergeblich versucht, den Vertrauensverlust auszugleichen, bemüht sich der Adoptivvater erst gar nicht. Er lässt François als Volksschüler auf einen Baum klettern und rücklings nach hinten fallen, wo er ihn auffangen wolle. Er lässt ihn einfach fallen und vermittelt dem kleinen François die wichtigste Erkenntnis seines Lebens, nämlich, dass man niemandem vertrauen kann. Der Junge will die Adoptivfamilie sofort nach der Schule verlassen, ein Plan, den er konsequent in die Tat umsetzt.
"Hart schlug ich auf der Wiese auf. Ich bekam keine Luft mehr und meinte, zu ersticken. Tagelang noch schmerzte mein Rücken. Tatenlos hatte mein Adoptivvater zugesehen, wie ich zu Boden stürzte. Jetzt hast Du die wichtigste Lektion deines Lebens gelernt, sagte er. Traue niemandem. Hörst du? Niemandem, nur du allein bist für deine Taten verantwortlich."

Er lässt sich planlos treiben, mehr oder weniger unter dem Motto, dass sich irgendjemand finden wird, der sich seiner annehmen wird. Diese Person wird Lucy, die er "große, starke, schwarze Schwester" nennt. Lucy ist ebenso ein Findelkind wie er, ausgesetzt allerdings am Rand einer Ausfahrtsstraße von Dakar. Dass sie überlebt hat, ist schlichtweg ein Wunder. Ihr Weg hat sie nach Marseille geführt, ebenfalls in die Arme einer bürgerlichen Familie. Die Übereinstimmungen bei François und Lucy sind der absolute Mangel an Freundschaften, an elterlicher Zuneigung und die Unfähigkeit, sich zu binden. Lucy lebt bei einem gewissen Mat, mit dem sie anscheinend dubiose und undurchschaubare Geschäfte betreibt. Was François mit Lucy verbindet, ist lange unklar, es ist jedenfalls nicht Verliebtheit, auch wenn sie hin und wieder miteinander schlafen. François ist auch nicht interessiert daran, zu wissen, was Lucy und Mat wirklich verbindet, ob sie ein Paar sind oder nicht.

François wird Portier in einem Hotel, das, obschon mit wunderschönen Zimmern ausgestattet, nur selten gebucht wird. Dazu findet Hans Platzgumer immer wieder wundersam eindringliche, wenn auch wirklich rätselhafte Beschreibungen.
"Wir befanden uns ein Stockwerk unter Straßenniveau, aber als Le Boche die Holzjalousie der Balkontür öffnete, wurde das Zimmer mit einem Satz vom strahlenden, vom Meer gespiegelten Sonnenlicht durchflutet. Dieser kleine, nun selbst wie eine Sonne leuchtende Raum hing förmlich unter der Stadt und schwebte über der Dünung."

Apathisch sitzt er täglich in seiner Portiersloge, eine Tätigkeit, die nur durch Botengänge unterbrochen wird. Botengänge, die nicht astrein zu sein scheinen. François ist das jedoch egal, er will auch gar nicht wissen, was er da hin und her trägt. Sofern er bezahlt wird, ist es ihm egal.

Der Schlüsselpunkt des Romans ist ein Hotelgast, der bei einer Runde Russischem Roulette eine falsche Entscheidung trifft und stirbt. François behält dessen Abschiedsbrief, verlässt Marseille und lässt sich nach New York treiben, wo er ebenso apathisch dahintreibt, wie er es bisher getan hat. Nur dass sich sein Leben nun statt in einer Portiersloge an Flipperautomaten abspielt. In einer Bar kommt er zufällig mit Anni ins Gespräch, mit der eine eine Stunde verbringt. Dabei verliebt er sich in sie. Anni hinterlässt ihm die Worte "Besuch mich, wenn du willst" auf einem Zettel, bevor sie sich verabschiedet.

François tut nun das unmöglich Scheinende, er bewegt sich und folgt Anni. Die Folge dessen ist sein Abstieg in die Obdachlosigkeit Montreals. Dieser Teil ist Hans Platzgumer wirklich auf beeindruckende Art und Weise gelungen, in der völligen Hoffnungslosigkeit lässt er die essenziellen Fragen durchschimmern, die Frage nach dem Sinn des Lebens, danach, was selbst in schwierigsten Momente noch als Motor zum Durchhalten dienen kann, danach, was Menschsein bedeutet, auch wenn man es immer wieder nur ganz kurz erfährt. Beispielsweise für drei Sekunden.

Hans Platzgumer führt den Leser geradlinig und konsequent durch die Geschichte, die trotz vieler Stärken auch den einen oder anderen Mangel erkennen lässt. In erster Linie jenen, dass man, zumindest der Rezensent, dem Protagonisten diverse Aussagen und Erkenntnisse nicht ganz abnimmt, und die Tatsache, dass der Roman extrem konstruiert wirkt. Nichtsdestotrotz, obwohl "Drei Sekunden jetzt" nicht so überzeugend wie "Am Rand" ist, handelt es sich um einen wirklich ausgezeichneten Roman, selbst mit den zuvor angeführten Nörgeleien des Rezensenten, der bereits jetzt auf den nächsten Streich dieses Autors wartet.

(Roland Freisitzer; 05/2018)


Hans Platzgumer: "Drei Sekunden Jetzt"
Zsolnay, 2018. 256 Seiten.
Buch bei Thalia.de bestellen

E-Buch bei Thalia.de bestellen

Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlichte in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays.
Hans Platzgumers Netzpräsenz: http://www.platzgumer.net/

Zwei weitere Bücher des Autors:

"Bogners Abgang"
zur Rezension ...

"Am Rand"
Wozu ist man fähig in der Überzeugung, das Richtige zu tun?
Ein Mensch steigt früh am Morgen auf einen Berg. Sobald es dunkel ist, will er einen letzten Schritt tun. Schon immer lagen der Tod und das Glück für Gerold Ebner nah beieinander. Als Kind hat er seinen ersten Toten gesehen. Später hat er zwei Menschen eigenhändig den Tod gebracht: Er erlöste seine Mutter vom terrorisierenden Großvater und seinen besten Freund von dessen Leiden. Doch ist er damit zum Mörder geworden? Noch einmal entscheidet sich Gerold gegen das Gesetz und findet so sein eigenes Glück, das ihm der Tod wieder nimmt ...
Fesselnd bis zum Schluss schildert der Ich-Erzähler die Ereignisse, die ihn an den Rand eines Felsens geführt haben. (Zsolnay/btb)
Buch bei amazon.de bestellen

Taschenbuch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen