Karl-Heinz Ott: "Und jeden Morgen das Meer"
Wenn
man von einem Tag auf den anderen vor dem Nichts steht
Die 65-jährige Sonja Bräuning führt das
Hotel ihres vor drei Jahren verstorbenen Ehemannes Bruno weiter. Ein
Hotel am Bodensee zwischen Bregenz und Basel, in dem früher
Jacques Chirac, Helmut
Kohl, Horst Tappert und andere Prominente
speisten, als es über einen "Michelin"-Stern
verfügte, den sich Bruno mit seinen kulinarischen Kreationen
verdient hatte. Dann war der Stern eines Tages weg, und mit dem ehemals
noblen und schicken Restaurant und Hotel, das sie mit viel
Fleiß, Hingabe und Ehrgeiz so weit gebracht hatten, ging es
langsam aber stetig bergab. Die Gäste blieben aus, und die
Zimmer waren mit jedem Jahr weniger ansehnlich. Ein Abstieg, den Bruno,
der ein ganz eigenartiger Charakter ist, nicht verkraftet. Binnen
weniger Monate säuft er sich zu Tode, ob am Ende Tabletten mit
im Spiel waren oder nicht, weiß niemand wirklich genau. Sonja
vermutet es, mehr nicht. Der Schuldenberg wächst, und ein
Kredit für eine Sanierung oder Neupositionierung ist
unrealistisch. Als Brunos Bruder Arno den "Lindenhof"
übernehmen und retten will, bleibt ihr keine andere Wahl, als
seine Bedingungen zu akzeptieren. Somit steht sie mit 65 auf der
Straße, nur ihre Kleidung hat sie in einem Reisekoffer.
Die Arbeitsplatzsuche verläuft negativ, niemand will Sonja
einstellen, egal wieviel Erfahrung sie mitbringt. Mr. Pettibone, ein
langjähriger Gast im "Lindenhof", bietet ihr die Chance, ein
kleines Hotel an der wilden Küste von Wales
zu
übernehmen. Ein Angebot, von dem er ihr gleichzeitig
abrät. Das "Ocean View" im abgelegenen Abydyr hat fast keine
Kundschaft und liegt so gottverlassen, dass es der Natur
völlig ausgeliefert ist. Rund um das Hotel nur Meer, Wind und
wilde Landschaft. Bei winterlichen Stürmen können die
Wellen schon einmal bis knapp unter das Dach anschlagen, an
schönen, sonnigen Tagen ist es ein fast unendlicher Blick
über das Meer, der begeistert. Jeden Tag steht Sonja an den
Klippen der Steilküste und sieht hinaus auf das Meer.
Karl-Heinz Ott erzählt diesen Roman sprunghaft, lässt
Sonja in ihren Erinnerungen zwischen heute, gestern und vorgestern hin-
und herspringen. Dabei erzählt er fast beiläufig
Brunos Lebensgeschichte sowie die Geschichte einer Ehe.
Dreißig Jahre haben die beiden gemeinsam verbracht, in einer
Ehe, die man
kaum leidenschaftlich nennen könnte, sondern fast
sogar geschwisterlich. Sie brauchen einander als verlässliche
Pfeiler, zum Anhalten, zur Unterstützung.
Bruno, der nur durch Sonjas Erinnerungen gezeichnet wird, ist ein
verschrobener, schrulliger Kauz, dem nichts ferner liegt als Geplauder,
Gesellschaften und andere Arten des sozialen Treibens. Schon beim
Werben um Sonja ist er scheu, eine Art des Scheuseins, die Sonja,
geprägt durch eine Kindheit der Entbehrung und einer Jugend im
Nonnenkloster, sehr sympathisch findet. So muss Sonja eindeutige
Signale aussenden, damit es zur ersten gemeinsamen Nacht kommt. Hier
zeigt sich ein erstes Beispiel des systematischen Vorgehens, das nicht
unwesentlich an seinem späteren Erfolg beteiligt sein wird.
Bruno beginnt damit, Sonjas Schuhe auszuziehen, scheitert aber bereits
resignierend an den Schnürsenkeln. Sonja übernimmt
die Führung und wird sie, bis kurz vor Brunos Tod, auch nicht
mehr abgeben. Erst dann, wenn Bruno in einem letzten Projekt, das er
sich einbildet, die Brownings - hinter denen er Verwandte vermutet -
erfolglos in einer trostlosen us-amerikanischen Kleinstadt suchen wird,
ohne ihnen dabei Abstecher ins nahe Boston oder New York zu erlauben.
Danach ist es bald mit Bruno vorbei.
Arno, Brunos Bruder, ist das genaue Gegenteil, ein
Möchtegern-Frauenheld, der nach ein paar Gläschen
seine Hände gern einmal unter dem Tisch über
Frauenbeine gleiten lässt. Nach Brunos Tod probiert er es auch
bei Sonja, erfolgreich, sie kann es sich selbst nicht
erklären, schämt sich dafür, was alles
Andere als erinnerungswürdig ist. Immer wieder spielt er eine
Nebenrolle in ihrem Leben, auch auf der Hochzeit von Bruno und Sonja,
als er öfter mit der Braut tanzt, als der frischgebackene
Ehemann.
Durch kreisendes, immer wieder mit Rückblenden reagierendes
Erzählen zeichnet Karl-Heinz Ott ein eindringlich
schönes Porträt einer Frau, die sich häufig
unterordnen muss, gesellschaftlichen Zwängen,
bürgerlichen Zwängen, in ihrer Ehe, im Hotel, der
misslichen finanziellen Lage und später sogar dem Bruder ihres
verstorbenen Mannes. Das tut der Autor mit großer Liebe
für seine Figuren, ohne dabei etwa auf die
Tränendrüse zu drücken. Wer Karl-Heinz Ott
schon vor diesem Roman als Schriftsteller gekannt hat, wird das
allerdings auch nicht erwartet haben. Pathos ist ihm wohltuend fremd.
In Wales findet Sonja endlich in kleinem Rahmen zu sich, auch wenn ein
klischeehaftes, alles glättendes Ende genauso weit entfernt
ist wie die Küste Neuenglands auf der anderen Seite des
Atlantiks. "Und jeden Morgen das Meer" liest sich
unspektakulär angenehm, beim langsamen Lesen entfalten
Karl-Heinz Otts Sätze ihre volle Wirkung. So kommt man leider
viel zu rasch an das Ende dieses kurzen Romans, der bei einer zweiten
Lesung noch mehr von seinen unter schnörkelloser Prosa
versteckten Weisheiten offenbart.
(Roland Freisitzer; 09/2018)
Karl-Heinz
Ott: "Und jeden Morgen das Meer"
Hanser, 2018. 144 Seiten.
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