Michael Ondaatje: "Kriegslicht"
(K)Eine
Agentengeschichte
Der 1943 in Colombo geborene Michael Ondaatje ist ein Schriftsteller,
der sich beim Schreiben offensichtlich viel Zeit lässt. Sieben
Jahre nach seinem Roman "Katzenlicht" erschien sein achter Roman
"Kriegslicht". Und wieder hat sich das Warten wirklich gelohnt, weil
"Kriegslicht" ein ganz feiner, facettenreicher, farbenfroher und
wundervoll erzählter Roman ist. Ein Roman, der nicht durch
innovative, bemüht moderne Erzähltechniken besticht,
sondern durch fast klassische, perfekt ausgehörte Prosa. Da
ist alles an seinem Platz, es gibt keine Leerläufe, alles ist
irgendwie miteinander verbunden und am Ende logisch durchdacht, auch
wenn gerade der erste Teil bewusst vage, ja sogar fast etwas
befremdlich wirkt.
Schon der Beginn dieses Romans ist fast unglaublich: Der Zweite
Weltkrieg ist vorbei, wir befinden uns im Sommer des Jahres 1945.
Die
Eltern von Nathaniel und Rose, die 14 und 16 Jahre alt sind,
erklären ihren Kindern, dass der Vater die Leitung einer
Filiale seines Konzerns in Singapur übernehmen und die Mutter
ihn begleiten wird. Die Jugendlichen werden in der Obhut zweier
Männer zurückgelassen, die "möglicherweise
Kriminelle waren." Die Kinder fügen sich dieser
Tatsache, und so nimmt alles seinen Lauf. Es ist
äußerst spannend, wie Ondaatje hierbei eine
Situation beschreibt, die man sich kaum vorstellen kann. Die Kinder
sollen in ihren Internaten bleiben und nur an den Wochenenden ins Haus
zurückkehren, wo sich dann die beiden Männer um sie
kümmern würden.
Das alles wird aus der Perspektive des bereits erwachsenen, gar schon
älteren Nathaniel berichtet, dessen Erzählung immer
wieder zwischen simplen Rückblenden und kommentierten, durch
das nunmehrige Wissen komplettierten Szenen wechselt. Die Wechsel der
Szenen und Abschnitte sind teilweise etwas verwirrend, lange ist nicht
ganz klar, wohin das alles führen soll. Die
erzählerische Kraft des Autors nimmt den Leser aber sicher bei
der Hand, lässt ihn Vertrauen schöpfen, dass das, was
hier so diffus arrangiert ist, Sinn ergibt bzw. ergeben wird. Bald
versteht man, dass es Ondaatje genau um diese Zerrissenheit und
Unsicherheit geht, die sich nicht nur im Erzählten, sondern
eben auch in der Erzählung selbst spiegelt.
Der Mann, den sie bald wegen seiner Bewegungen "den Falter"
nennen, eine ungreifbare Figur, holt ebenso ungreifbare, etwas
verdächtige Figuren ins Haus. Einen Boxer und einige
aufregende Frauen, die sich abwechseln. Die Kinder lernen dadurch eine
Gesellschaft kennen, die für damalige Verhältnisse
sicherlich fast etwas anarchistisch Freies zelebriert. In
Gesprächen mit "dem Falter" muss
Nathaniel bald erkennen, dass die Verbindung zwischen ihm und seiner
Mutter auch dunkle Seiten hat, die ihm vorerst unbegreiflich sind.
Eines Tages finden die Kinder im Keller den Überseekoffer, den
ihre Mutter vor der Abreise gepackt hat. Dadurch gibt es noch mehr
Unklarheit, die lange weiter für Desorientierung sorgt.
Nathaniel muss ebenso bald erkennen, dass der Mann, den sie "den
Boxer" nennen, dubiose Geschäfte macht. In den
Nächten werden in einem Muschelboot diverse Güter von
einem Ort zum anderen transportiert, es sind entlegene, dunkle Orte,
die nicht darauf hindeuten, dass es mit rechten Dingen zugehen
würde. Diese Passagen entfalten großartig suggestive
Kraft, weil Ondaatje darin besonders feinfühlig mit
Lichtverhältnissen jongliert und seine ganze
Erzählkunst einfließen lässt. Menschen
erscheinen und verschwinden. Frauen und Männer, die in
unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen. Es kommt sogar zu
einer Art Überfall auf Nathaniel, der ebenso diffus wie alles
Andere ist. Die einzige fixe Konstante besteht eigentlich nur im Fehlen
der Eltern, die mehr oder weniger vom Erdboden verschluckt scheinen und
bald auch nicht mehr vermisst werden. In einem Hotel, in dem der junge
Nathaniel zu arbeiten beginnt, begegnet er Agnes, die seine erste Liebe
wird. Ihre erotische Beziehung entwickelt sich in verlassenen
Wohnungen, die ein Verwandter von Agnes zum Vermieten oder Verkauf
anbietet.
Dann ist eines Tages, plötzlich und unvermutet, die Mutter
wieder da. Nur sie. Vom Vater fehlt weiterhin jede Spur. Was man bis
dahin natürlich längst irgendwie geahnt hat, wird nun
zur Gewissheit. Michael Ondaatje hat den Leser geschickt am roten Faden
einer Agentengeschichte geführt. Wunderbar ist an dieser
Stelle, wie alles, was noch nebulös war, plötzlich an
Klarheit gewinnt. Fast so, als hätte der Autor schlagartig den
Nebel weggeblasen und alles mit strahlendem Sonnenschein beleuchtet.
Während sich die Tochter von der Mutter abwendet, zieht
Nathaniel mit der Mutter nach Suffolk. Aufklärung
darüber, was seine Mutter in den vergangenen Jahren getan hat,
erhält er nicht.
Viel später, als Nathaniel im Außenministerium
arbeitet, besorgt er sich heimlich die Akten über die
Tätigkeit seiner Mutter. So beginnt er, deren
Agententätigkeit
zu rekonstruieren. Er muss feststellen, dass
seine Mutter nach Kriegsende im Kampf gegen Partisanengruppen am Balkan
und in Italien tätig war, dass sie Blut an den Händen
und danach ständig in Erwartung diverser Rächer
gelebt hat. Auch hierbei sind es jene Sachen, welche Ondaatje nie
direkt sagt, die am meisten beeindrucken, nachdenklich stimmen und
zeigen, dass der Zweite Weltkrieg nach dem offiziellen Ende noch lange
nicht vorbei war.
Wenn es irgendeinen noch so minimalen Schwachpunkt in diesem
wundervollen Roman gibt, dann lediglich die Tatsache, dass der Autor
natürlich bemüht ist, gegen Ende
aufgefächerte Unklarheiten zu logischen Erklärungen
zusammenkommen zu lassen.
Ein "Thriller" oder "Agententhriller"
ist "Kriegslicht" definitiv nicht. Schon deshalb nicht, weil Michael
Ondaatje nicht an vordergründiger Spannung interessiert ist.
Sein Interesse gilt dem Rundherum. Der Psyche, die durch diese
Unklarheiten leidet, die damit zurechtkommen muss, dass die eigene
Mutter ein ganz anderer Mensch war, als man vermutet hat. Oder auch,
dass eine vermeintlich wichtige Tätigkeit zur Sicherheit des
eigenen Landes nicht eindimensional ist.
Auch aus künstlerisch-ästhetischer Sicht ist dieser
Roman ein Ereignis, allein der Aufbau ist ein herrliches Konstrukt, das
seine Wirkung erst nach und nach entfaltet. Und sprachlich kennt
Ondaatje sowieso nur wenig Konkurrenz. Erfreulich ist in diesem
Zusammenhang auch die hohe literarische Qualität der deutschen
Übersetzung von Anna Leube, die zwar nicht ganz an die
ästhetische Eleganz des Originals herankommt, (das der
Rezensent unmittelbar vor der deutschen Übersetzung gelesen
hat), die aber definitiv extrem gelungen und überzeugend ist.
"Kriegslicht" ist ein wirklich beeindruckender Roman, der beweist, dass
Michael Ondaatje zu den größten Schriftstellern
unserer Zeit gehört. Sicherlich ein literarischer
Höhepunkt dieses Jahres.
(Roland Freisitzer; 09/2018)
Michael
Ondaatje: "Kriegslicht"
(Originaltitel "Warlight")
Übersetzt von Anna Leube.
Hanser, 2018. 320 Seiten.
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Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren, lebt heute in Toronto. Mit seinem Roman "Der englische Patient" für den er den "Booker-Preis" erhielt, wurde er weltberühmt.