Cees Nooteboom: "Rituale"
Außergewöhnliche
Gestalten und Szenen aus drei Jahrzehnten.
"Mein Kloster ist die Welt."
Im "Duden" findet sich unter "Ritual": "schriftlich fixierte
Ordnung der (römisch-katholischen) Liturgie, Gesamtheit der
festgelegten Bräuche und Zeremonien eines religiösen
Kultes; Ritus, wiederholtes, immer gleichbleibendes,
regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten
Ordnung; Zeremoniell."
Isoliert betrachtet offenbaren Rituale häufig keinen
unmittelbar erkennbaren Sinn, dennoch sind sie im Gesamtkontext ihrer
Existenz stets von einiger Bedeutung, und diese ist keineswegs auf
religiöse Belange beschränkt.
Zeitgenössische Psychologen und Ratgeberbücher
wissen einträgliche Liedchen von der behaupteten Wichtigkeit
diverser Alltagsrituale zu singen, deren gezielter Einsatz quasi in
jeder Lebensphase Struktur und Orientierung, Halt und
Stabilität verspricht. Auch gelten Rituale als
kulturendefinierend, wobei die individuelle Grenze zwischen
Alltagsritual und neurotischer Zwangserkrankung durchaus
fließend sein kann.
Im Spannungsfeld der Ambivalenz von Ritualen und Leidenschaften, von
Langeweile und fremdbestimmten Veränderungen ist der in die
drei Hauptkapitel "Intermezzo 1963", "Arnold Taads 1953" und "Philip
Taads 1973" gegliederte Roman angesiedelt.
Womit wir wieder zum Thema zurückkehren, denn Cees Nooteboom
bescherte seinen Romanfiguren unterschiedliche und verschieden stark
ausgeprägte Rituale bzw. Obsessionen, um deren
höchstpersönliche Erlebniswelten plausibel
abzubilden, z.B. gnadenlose Pünktlichkeit.
Das Überfliegen von Zeitungshoroskopen ist für viele
Menschen Bestandteil ihres üblichen Morgenrituals, und
Nootebooms Protagonist Inigo "Inni" Wintrop erstellt in jungen Jahren
derlei Vorhersagen für eine große
niederländische Tageszeitung. Ironie des Schicksals, dass sich
der Löwegeborene an jenem Tag, der den Beginn des Romans
markiert, selbst ahnungsvoll ein äußerst negatives
Horoskop zugeschrieben hat: Seine langjährige
Projektionsfläche und Bettgenossin Zita brennt mit einem
italienischen Fotografen durch, und Inni unternimmt einen
fehlschlagenden Selbstmordversuch.
Cees Nooteboom bemerkte zu "Rituale" in einem Interview mit der "Neuen
Zürcher Zeitung", erschienen am 31. Dezember 2017: "Ich
wusste, da kommt etwas, aber ich muss ausharren. Ein Großteil
dessen, was man heute liest, sind 'gemachte' Bücher. Zu
konstruiert. Das habe ich nie interessant gefunden. Ich wusste, es
gibt
etwas, worauf ich warten musste. Ich bin gereist und habe Reportagen
geschrieben. Dabei habe ich viel gelernt. Als dann endlich 'Rituale'
kam, war es doch ein gutes Gefühl. Gleich danach kam 'Die
folgende Geschichte', damit der Erfolg in Deutschland und viele
Übersetzungen."
Der seinerzeit marktbeherrschende Literaturkritiker
Marcel
Reich-Ranicki verhalf Nooteboom mit der Besprechung des
Romans "Die folgende Geschichte" (Originaltitel "Het volgende verhaal")
im Oktober 1991 in der "ZDF"-Fernsehsendung "Das Literarische
Quartett", die Ende 2001 eingestellt wurde, zu großer
Popularität und urplötzlich emporschnellenden
Verkaufszahlen. Cees Nooteboom wurde gewissermaßen
über Nacht zum im Ausland bekanntesten
niederländischen Autor und zum Botschafter
niederländischer Literatur, die somit ihre Galionsfigur
gefunden hatte. Nooteboom und seine Werke erlangten danach erst
über den Umweg deutscher Übersetzungen im
übrigen Europa und in der Heimat des Schriftstellers
Bekanntheit. Dies möglicherweise aufgrund der Tatsache, dass
Nootebooms grundsätzlich romantisch-philosophischer Ansatz
eher den Geschmack deutschsprachiger Leser als jenen seiner Landsleute
traf und trifft, er somit kein typisch niederländischer
Schriftsteller ist.
Cees Nooteboom ist dem Vernehmen nach weder bei "Facebook"
noch auf "Twitter" präsent und besitzt
kein Mobiltelefon - anno 2018 eine ebenso seltene wie
aussagekräftige Situation bzw. Position.
Auf Cees Nootebooms Debütroman "Philip en de anderen" (1955),
kurioserweise seinerzeit auf Deutsch als "Das Paradies liegt nebenan"
und erst später unter korrekt übersetztem Titel
erschienen, folgte anno 1963 "De ridder is gestorven", und erst nach 17
Jahren Pause, die der Autor mit dem Verfassen von Gedichten,
politischen Reportagen und Reisebüchern füllte, wurde
im Jahr 1980 der dritte Roman "Rituelen" veröffentlicht (auf
Deutsch 1985). Im Jahr 1989 kam Herbert Curiels nach Nootebooms
Romanvorlage mit Derek de Lint (geboren am 17. Juli 1950 in Den Haag)
in der Hauptrolle gedrehter Film "Rituelen" heraus.
"Rituale" umfasst mehrere Jahrzehnte, indem jedes Kapitel einen anderen
Abschnitt von Innis Leben behandelt. Ausgehend von den Jahren 1963,
1953 und 1973 entspinnt sich, einmal zeitfolgegemäß,
dann wieder assoziativ, ein dichtes Netz aus Erinnerungen,
Impressionen, Gefühlen, Erlebnissen und Entwicklungen - eine
interessante Struktur.
Inni Wintrop, der sich nicht ungern selbst beutelnde und vom Schicksal
gebeutelte Protagonist, durchmisst sein Leben, einmal zeitgerafft in
Riesenschritten, dann wieder ganz behutsam, sozusagen in Zeitlupe.
Dieser Inni ist nach heutigem Maßstab ein Taugenichts vom
alten Schlag im besten Sinn, ein aufmerksamer, übersensibler
Flaneur und Grübler, ein heiter-melancholischer Bohemien, der
das große Glück hat, einer betuchten Sippe
anzugehören, was ihm ein beneidenswertes Indentaghineinleben
gestattet. Dennoch spekuliert er regelmäßig und mit
wechselndem Erfolg an der Börse und betätigt sich
gelegentlich als Kunsthändler. Für Frauen empfindet
Inni bisweilen so etwas wie interesselose Liebe.
Zudem hat Cees Nooteboom seinen Protagonisten offensichtlich mit
einigen autobiografischen Zutaten (Verlust des Vaters, Besuch
katholischer Schulen, Reise- und Welterfahrungen) ausgestattet,
freilich handelt es sich um eine hochprozentige Literatenmixtur aus
Erdachtem und erlebter Wirklichkeit.
Es geht um den höchstpersönlichen Lebensweg jedes
Einzelnen, um Vorzeichen und Ahnungen, um das Verhältnis
zwischen Mann und Frau, um Humor und Ironie, um
Persönlichkeitsentwicklung, Profanes und Mystik im Fernen
Osten und im Westen, um Mythologie, Existenzialismus, Erotik - und um
Zeit, Tod und Selbstmord.
Innis Rolle als distanzierter Beobachter, seine Schwäche
für Langeweile als ästhetisches Kriterium und seine
schonungslose Offenheit für Eventualitäten des
Alltags basieren wohl nicht zuletzt auf frühen
Lebenserfahrungen und zeigen ein ungeliebtes Menschenkind, das
jahrelang mehr aus der Welt heraus- als in diese hineingewachsen ist,
dennoch - oder gerade deshalb - über reiches inneres Erleben
verfügt, in der Einsamkeit heimisch ist und andere
(männliche) Sonderlinge beinahe magisch anzieht.
Von erlesener Dichte und Beschreibungsqualität sind die
Amsterdamer Straßenszenen, Innis Träume sowie seine
Erlebnisse mit seiner langjährigen Freundin Zita, seiner
protzigen Tante Thérèse, seinem aufbrausenden
Onkel, mit Arnold Taads, einst Liebhaber der Tante, Notar und
preisgekrönter Alpinskifahrer, nunmehr eingefleischter
Frauenverweigerer, Welterklärer von Format, Besitzer eines
treuen Hundes namens "Athos" (!) und Teilzeitaussteiger mit nicht nur
harmlosen Steckenpferden, mit Monseigneur Teruwe, dem trinkfreudigen
Seelenhirten, und Tante Thérèses zungenfertigem
Dienstmädchen Petra.
Viele Szenen enthalten tiefgründige Gedanken und
theologisch-philosophische Gespräche, allerdings erinnert das
denkbar katastrophal verlaufende Abendessen bei Tante und Onkel auch an
Filmszenen, wie man sie von
Loriot
kennt. Die reinen Herrengespräche sind stets von anderer
Güte, wenn auch ab und zu seltsam.
Weiter geht es mit drei Tauben, Inni als Kunstschacherer, dem
Kunsthändler Bernard Roozenboom, einer überaus
kostbaren Raku-Schale, dem Kunsthändler Riezenkamp, Innis
Bekanntschaft mit Arnold Taads' halbindonesischem Sohn Philip, der mehr
als eine Schwäche für das Alte Japan hat und
für den die Zeitmessung, ganz im Gegensatz zu seinem Vater,
keine Bedeutung besitzt, wohl aber die Einsamkeit - und auch die
anscheinend ererbte Neigung zu Depressionen.
Eine nach allen Regeln der Kunst durchgeführte (und von
Nooteboom ausführlich beschriebene) Teezeremonie
führt Inni, Riezenkamp und Philip ein letztes Mal in Philips
Wohnung zusammen. Philip schätzt offenkundig nicht nur die
Werke des japanischen Literaturnobelpreisträgers des Jahres
1968
Yasunari
Kawabata, der am 16. April 1972 Selbstmord beging, wodurch
eigentlich alles Weitere vorgezeichnet ist ...
Cees Nooteboom ist in "Rituale" auch das bemerkenswerte
Kunststück gelungen, tatsächlich lebensecht wirkende
Sexszenen unmittelbar und doch abgeklärt zu beschreiben, und
jeder Romanfigur, egal, was sie auszustehen hat, ihre Würde zu
belassen. Die männlichen Romanfiguren sind
überwiegend gebildete, nachdenkliche, konsequente (wenn auch
bisweilen der allgemeinen Normalität entrückte)
Sinnsucher, die Frauenfiguren tendenziell manchmal angenehme bis
notwendige Ergänzungen, kurzzeitige Zaungäste, oder
eben dauerhafte Feindbilder, doch Inni muss im Lauf der Jahrzehnte
Veränderungen der traditionellen Geschlechterrollen
feststellen.
Nootebooms Figuren vereint die traumwandlerische Unsicherheit, mit der
sie sich durch das Amsterdam der beschriebenen Jahrzehnte bewegen. Der
Tod beschäftigt sie ein Leben lang, sie sind leidenschaftliche
Grübler, extrem ichbezogen, halten kaum etwas für
unmöglich, glauben an schicksalhafte Begegnungen und sind
niemals einer niveauvollen Unterhaltung in ansprechender Gesellschaft
abgeneigt, sofern zumindest ein Gläschen Wein kredenzt wird.
"Rituale", vom 1935 geborenen Hans Herrfurth ebenso stilsicher wie
stimmungsvoll übersetzt, ist ein faszinierender Roman
über (sicher nicht nur Amsterdamer) Männerwelten
vergangener Jahrzehnte, der auch heutzutage höchst aktuell
wirkt.
(kre; 08/2018)
Cees
Nooteboom: "Rituale"
(Originaltitel "Rituelen")
Aus dem Niederländischen von Hans Herrfurth.
Suhrkamp. 231 Seiten.
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Weitere
Romane des Autors:
"Philip und die anderen"
In "Philip und die anderen" erzählt Cees Nooteboom die
Geschichte eines jungen Mannes, der, einem traumhaften chinesischen
Mädchen auf der Spur, quer durch Europa trampt,
von Bekanntschaft zu Bekanntschaft eilt und in den Jugendherbergen und
auf den Straßen seine "Schule des Lebens" besucht. In sieben
Kapiteln entfaltet Nooteboom ein melancholisches Märchen, in
dem die Erotik keine nebensächliche Rolle spielt.
"Philip und die anderen", Nootebooms Erstling, als Kultbuch von
Generation zu Generation weitergereicht, ist ein ganz besonderer Roman.
(Suhrkamp)
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"Der
Ritter ist gestorben"
Ein Schriftsteller reist auf eine "weiße Insel" in spanischen
Gewässern, wo er ein Buch zu Ende bringen will, an dem sein
verstorbener Freund André Steenkamp bis unmittelbar vor
seinem Tod gearbeitet hat. Doch rasch gerät er, der sich schon
bald nach seiner Ankunft unter den Freunden des Freundes bewegt, als
sei er schon lange hier, in den Bann der Welt des Verstorbenen. Er
versucht, alles, was Steenkamp begegnet ist, nachzuzeichnen, ja
nachzuleben - und wird dadurch selbst, von Stunde zu Stunde mehr, Teil
dessen, dem er auf der Spur ist. Wird selbst zu jenem
Künstler, der erfahren muss, dass die Wahrheit einer Existenz
unmöglich zu ergründen, nicht einmal nachzuleiden ist.
Cees Nootebooms Buch macht den Zwiespalt zwischen
Liebesunfähigkeit und Liebessehnsucht, zwischen Todesangst und
Lebenshunger, zwischen Hoffen und Verzweifeln, Wollen und
Können zum Thema. (Suhrkamp)
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"Die
folgende Geschichte"
Wieso wacht Hermann Mussert in einem ihm vertrauten Zimmer in
Lissabon
auf, obwohl er doch in Amsterdam wohnt und sich dort auch am Abend
zuvor zum Schlafen niedergelegt hat? Ein spontaner Entschluss zum
Aufbrechen in eine andere Gegend kann es nicht gewesen sein, denn
dieser Altphilologe, der nicht mehr unterrichtet, ist ein eher
Lebensuntüchtiger, ganz seinen griechischen und lateinischen
Autoren zugewandter Mensch; seine Schüler nannten ihn
Sokrates.
Träumt er nur, in Lissabon aufzuwachen? Oder ist sein Gang
durch Lissabon eine Reise in der Erinnerung, also eine Reise in der
Zeit? Denn immerhin ist dies der Ort einer richtigen Affäre
mit einer Kollegin.
In einem zweiten Teil der Geschichte bricht Mussert - im Traum? in der
Wirklichkeit? - mit sechs anderen Personen zu einer Schiffsreise nach
Brasilien auf. Alle Reisenden erzählen von ihrem Leben. Die
Geschichte, die Hermann Mussert als Letzter erzählt, scheint
alle Rätsel zu lösen: Er gibt ihr den Titel "Die
folgende Geschichte". (Suhrkamp)
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Ein
Gedichtband des Autors:
"Mönchsauge"
Zweisprachige Ausgabe. Mit Bildern von Matthias Weischer.
"Gedichte kennen kein Fragezeichen", wird
kühn behauptet in diesem Zyklus, der seine Anfänge in
einer Dezembernacht hat. Cees Nooteboom ist zu dieser Zeit auf
Schiermonnikoog, der Insel der grauen Mönche. Und so entstehen
33 Gedichte von strenger Form und großer Leichtigkeit,
Bilder, Trugbilder, Traumbilder einer Wirklichkeit: Phaidros und
Sokrates auf dem Dünenpfad, sechs Engel bei
Windstärke zehn, ein Marder, der nachdenklich in der Felswand
sitzt. Mit Sokrates kehren die Gedichte schließlich doch zu
einem Fragezeichen zurück, zur großen Frage der
menschlichen Existenz: Woher denn und wohin?
In diesem Gedichtband des großen niederländischen
Autors Cees Nooteboom stehen sich Wort und Bild gegenüber.
Eigens für diese Ausgabe legte Matthias Weischer Zeichnungen
und Aquarelle vor, welche auf die Gedichte antworten, mit ihnen
spielen, sie spiegeln: Der Dichter und der Maler haben ein
Gesamtkunstwerk komponiert. (Suhrkamp)
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