Adolf Muschg: "Heimkehr nach Fukushima"
Eine
späte Liebe in Japan
Adolf Muschg hat sich in der Vergangenheit immer wieder in seinem
Schaffen mit Japan beschäftigt. Er hat das Land bereist, sich
mit der Kultur und Tradition auseinandergesetzt und ist auch mit einer
Japanerin verheiratet. So verwundert es nicht, wenn es in diesem
Spätwerk, der Autor ist 84 Jahre alt, wieder nach Japan geht.
Paul Neuhaus, ein 62-jähriger Schriftsteller und Architekt,
der in einem stilvoll schicken Architektenhaus am Kaiserstuhl mit Blick
auf die Vogesen lebt, ist soeben von seiner Lebensgefährtin
verlassen worden. Zumindest ist die Beziehung mehr als in der Schwebe.
Da kommt die Einladung eines befreundeten Ehepaars nach Japan genau zum
richtigen Zeitpunkt. Allerdings soll er in die verstrahlte
Präfektur Fukushima reisen, um dort eine
Künstlerkolonie zu gründen. Man meint, wenn ein
berühmter Ausländer dort Gründungsmitglied
ist, wird es nicht schwierig sein, auch andere, japanische
Künstlerinnen und Künstler dazu zu bewegen, ebenfalls
dorthin zu ziehen. Und diese Künstlerkolonie soll die
Wiederbesiedlung Yoneuchis, nur vierzig Kilometer vom Reaktor entfernt,
vorantreiben, die dem dortigen Bürgermeister ein
großes Anliegen ist. Eine abstruse Idee natürlich,
wenn man über die möglichen Folgen einer solchen
Wiederbesiedlung nachdenkt, weil die Verstrahlung noch einige hundert
Jahre spürbar sein wird.
In Japan wird Neuhaus von seinem Gastgeber Ken-ichi und dessen Frau
Mitsuko empfangen und erfährt überraschenderweise,
dass er mit Mitsuko alleine nach Yoneuchi reisen wird. Ken-ichi wird
sie nicht begleiten. Diese Konstellation erfährt
zusätzliche Brisanz dadurch, dass Mitsuko die Nichte des
dortigen Bürgermeisters ist.
Adolf Muschg zeichnet beeindruckende Szenen, in denen Paul die Spuren
der Verwüstung wahrnimmt, die seit der Katastrophe die
Landschaft bestimmen. Die Felder sind mit schwarzen Säcken
übersät, in denen die oberste, verseuchte Erdschicht
verpackt ist. Flussläufe sind reine Giftadern, und die
Gewissheit, dass der Boden bei jedem Regen neu kontaminiert wird, nimmt
jeglichen Bemühungen um Wiederherstellung einer reinen
Landschaft den Impetus. Und so schafft Muschg den Bezug zum Thema der
Studien, die Paul Neuhaus schreiben will: "Körper und
Sprache". Die kontaminierte Landschaft, verstanden als Körper,
hinterlässt quasi eine versehrte Sprache, wie Mitsukos Mann
Ken-ichi die Schönrederei und Verdrängungsaussagen
der japanischen Regierung nennt. Paul fragt sich, ob es im Menschen
eine Kraft gibt, die ihn durch die reale Bedrohung unangreifbar machen
könnte. Wenn ja, dann wäre der Wunsch nach Heim- bzw.
Rückkehr mehr als eine rein nostalgisch-unvernünftige
Sehnsucht.
Dazu kommt, dass sich zwischen Paul und Mitsuko eine leidenschaftliche
Beziehung entwickelt. Nicht nur, dass beide eine Leidenschaft
für Adalbert Stifter teilen, sie fühlen sich auch
körperlich zueinander hingezogen. Diese neu entflammte
Leidenschaft ist für Paul mindestens genauso emotional
aufwühlend wie die Begegnungen mit Opfern der Katastrophe von
Fukushima. In Schutzanzügen und mit einem
Geigerzähler ausgerüstet besuchen sie das verlassene
"Okura-Haus". So treiben die beiden Verliebten durch eine Art
postapokalytischer Welt, die allerdings vor Ort Realität ist.
Während es zu einigen etwas umständlichen Sexszenen
kommt, hängen in einer verlassenen Stadt Puppen von den
Decken, was verschwundenes Leben suggerieren soll. Dass das nur
verstörende Auswirkungen haben kann, ist allzu
verständlich. Immer stärker ist Paul irritiert durch
das deutlicher werdende Ausmaß der sozio-kulturellen
Differenz, die es zunehmend schwerer macht, den jeweils Anderen zu
verstehen. Wenn es nur möglich wäre, zu sehen aber
nicht zu ver- bzw. urteilen, dass das japanische Volk anscheinend kein
Interesse daran hat, sich gegen die Lügen und Vertuschungen
der Politiker zu erheben. Vielleicht ist Mitsu der Schlüssel
zum Verständnis?
Oder ist der Schlüssel zum Verständnis gar bei
Adalbert Stifter versteckt, aus dessen später
Erzählung "Die Nachkommenschaften" wie folgt zitiert wird: "Freilich
sagt
man, es sei ein großer Fehler, wenn man zu wirklich das
Wirkliche darstellt."
Je stärker Adolf Muschg Adalbert
Stifter in sein
Erzählkonstrukt einbindet, desto überzeugender wird
diese Symbiose, die zu Beginn eher fragwürdig erscheint.
Obschon dieser relativ kurze Roman mit all der vorhandenen Symbolik
oder in seiner informativen Wucht, die das eine oder andere Mal fast
wie ein Informationstsunami wirkt, teilweise etwas
überfrachtet anmutet, fügt sich letztendlich alles
sehr gut in ein Ganzes zusammen. So ist "Heimkehr nach Fukushima" ein
äußerst interessanter, überzeugender Roman,
der die Katastrophe von Fukushima und die damit verbundenen
Auswirkungen eindrucksvoll in einen literarischen Text verwandelt. Es
ist ein Roman, der am Ende sogar ansatzweise erkennen und verstehen
lässt, warum der Umgang mit dieser Tragödie in
Japan
so ist, wie er ist und nicht so, wie man es sich in Europa erwarten
würde. Zusätzlich ist "Heimkehr nach Fukushima" aber
auch ein eindringlicher Liebesroman, den Muschg teilweise mit scheinbar
schelmischem Augenzwinkern abliefert. Und das ist, auf den Punkt
gebracht, einfach große Literatur.
(Roland Freisitzer; 09/2018)
Adolf
Muschg: "Heimkehr nach Fukushima"
C.H. Beck, 2018. 245 Seiten.
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