Henning Mankell: "Der Sprengmeister"


"Die Erzählung ist der Versuch einer Rekonstruktion dessen, was Oskar eigentlich nie gesagt hat. Ein Versuch, die Ursachen für seine Veränderung zu beschreiben." (Henning Mankell)

Henning Mankell starb am 5. Oktober 2015 und hinterließ ein erstaunliches Konvolut an Kriminalromanen, historischen Romanen und Romanen, die in Afrika spielen. Hinzu kommen Bücher für Kinder und Jugendliche, Theaterstücke, ein Erinnerungsbuch und eine Autobiografie. Nach seinem Tod wurde sein letzter Roman "Die schwedischen Gummistiefel" veröffentlicht, der als eine Fortsetzung von "Die italienischen Schuhe" angelegt ist. Einige seiner frühen Romane waren noch nicht aus dem Schwedischen übersetzt worden. Der Zsolnay-Verlag gibt nach dem ersten Afrika-Roman "Der Sandmaler" nun seinen ersten Roman überhaupt heraus, den Mankell im Alter von Mitte 20 geschrieben hat. Mankell war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Schweden bereits sehr erfolgreich mit einigen Theaterstücken. So konnte er es sich finanziell leisten, in aller Ruhe an "Der Sprengmeister" zu arbeiten.
Der Författarförlaget Verlag nahm das Manuskript schnell an.

Mankell schreibt in einem Nachwort aus dem Jahr 1997: "Es erhielt gute Rezensionen. (Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb nur Björn Fremer in der Kvällsposten negativ darüber). In der Folge erhielt ich Stipendien und konnte diverse Brötchenjobs aufgeben."
Der Roman scheint also auch in ökonomischer Hinsicht eingeschlagen zu haben.

Wenn ich mich nun daran mache, "Der Sprengmeister" zu besprechen, so tue ich dies aus der Erfahrung eines langjährigen Mankell-Lesers, der dem Autor gerecht werden will. Dieser erste Roman ist kein Bravourstück. Es ist ein erster Versuch eines jungen Autors, eine längere Geschichte zu erzählen. Im Vergleich zum "Sandmaler" wirkt er ausbalancierter, die Figuren erscheinen lebendiger.
Oskar Johansson, die Hauptfigur, ist bei einem schweren Unglück in jungen Jahren fast ums Leben gekommen. Er war für die Sprengung eines Felsens verantwortlich, und die Zündung schien nicht zu funktionieren. Er kontrollierte die Vorrichtung, und plötzlich gab es eine enorme Detonation. Es war ein Wunder, dass er überlebte. Er büßte ein Auge und einen Arm ein. Monate musste er im Krankenhaus verbringen. Das Unglaubliche ist, dass er nur wenig später wieder seine Tätigkeit als Sprengmeister aufnahm und bis zu seiner Pensionierung, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit, ausübte.

Mankell bedient sich einer Finte, die diesem Roman eine besondere Note gibt. Er erzählt nicht chronologisch, sondern springt sehr viel in den verschiedenen Lebensabschnitten Oskar Johanssons herum. Dadurch wird er immer wieder auf eine andere Weise lebendig, und die Facetten seines Lebens ergeben ein Mosaik. Unwichtiges und Wichtiges stehen nebeneinander. Ungesagtes und Gesagtes wechseln einander ab. Ein Erzähler besucht Oskar und lässt ihn erzählen. Ob hier die "Wahrheit" oder bloß eine Annäherung daran zum Vorschein kommt, muss der Leser selbst einordnen. Keine Biografie kommt ohne Brüche aus, und "Der Sprengmeister" macht da keine Ausnahme. Immer wieder wird Oskar Johanssons Bedeutungslosigkeit von ihm selbst betont. Er hat wenig, vielleicht nichts, bewirkt, aber er hat gelebt. Diese "Biografie eines Arbeiters" stellt einen Menschen in den Mittelpunkt, der keine Heldentaten vollbracht hat oder dies zumindest glaubt.

Der Roman handelt mehr von Männerfreundschaft als von der Liebe. Die Beziehung Oskars zu Elly, die ihn nach seinem schweren Unfall verlässt, und nachher die langjährige Ehe mit ihrer Schwester Elvira beschreibt er selbst fast emotionslos. Ja, er hat sich mit Elvira immer gut verstanden, es gab nie großen Streit, die Eheleute waren derselben Meinung, was gesellschaftspolitische Dinge betraf. Ihr Tod hat ihn einsam und bedrückt zurückgelassen. Doch die Freundschaft des Erzählers zu Oskar, der problemlose Zusammenhalt von Oskar mit einem Kollegen, der ihn in seinem kleinen Haus wohnen lässt, und insbesondere die rührende Geschichte mit Lindgren sind so etwas wie hervorstechende Aspekte des Romans. Die Freundschaft zu Lindgren zeigt Oskars große Empathie, die sich wie selbstverständlich äußert. Lindgren hat, wie sich herausstellt, eine schwere Krankheit, die sein Gehirn angreift und langsam zerfallen lässt. Oskar ist der einzige Mensch, der Lindgren regelmäßig besucht und mit ihm Spaziergänge und Picknicks macht. Lindgrens Mutter freut sich sehr darüber, dass ihr Sohn einen solchen Freund hat. An der Beziehung zu Lindgren wird deutlich, dass Oskar keineswegs eine unbedeutende Person sein kann. Ja, kann denn überhaupt ein Mensch "unbedeutend" sein? Gibt es nicht in jedem menschlichen Leben Erstaunliches zu beobachten? Darüber ließe sich trefflich philosophieren. Und dies tut Oskar auch, wohl ohne es zu bemerken.

"Die Erzählung über Oskar ist wie ein Eisberg. Man sieht nur einen kleinen Teil. Der Großteil ist unter der Oberfläche verborgen. Dort befindet sich die größte Masse Eis, die dem Berg das Gleichgewicht im Wasser verleiht und ihn stabil dahingleiten lässt." (Henning Mankell)

Die vielen verschiedenen Perspektiven könnten ein Gesamtbild ergeben, doch das ist eine Täuschung. Es ist in der Tat wie die Spitze eines Eisbergs, die auf Größeres verweist, das nicht sichtbar ist. Der Tod taucht immer wieder auf. Oskar hat Angst vor dem Sterben. Er weiß nicht so recht, was er davon halten soll, wenn er einmal nicht mehr ist. Wird es weitergehen oder nicht? Seine "Meinung" darüber ändert sich laufend.

Nach dem Tod seiner Frau muss er gegen Ende seines Lebens noch einmal umziehen, weil eine moderne Siedlung dort errichtet wird, wo er jahrzehntelang zu Hause war. In den letzten Monaten seines Lebens siecht er nach einer Gehirnblutung nur noch dahin und stirbt schließlich an den Folgen einer zweiten Gehirnblutung.

Kann "Der Sprengmeister" auch so etwas wie die Darstellung der schwedischen Gesellschaft in den 1970er-Jahren sein? Darüber werden die Meinungen auseinandergehen. Zwar ist vom Niedergang des Sozialismus die Rede und wie sich die Dinge auch politisch drehen, aber im Vordergrund steht die Geschichte von Oskar als Arbeiter, der als Ehemann und Vater von drei Kindern sein Leben zu meistern versucht. Die Arbeiterschaft wird vor den Vorhang gestellt, auch die Arbeitslosigkeit und der Umgang damit finden Erwähnung. Demonstrationen gegen Ungerechtigkeiten, gewerkschaftliche Bemühungen oder Stillstände finden ebenso Platz im Roman wie die grauenhafte Phase des Nationalsozialismus, Vietnam oder in Andeutungen schwedische Politik. Vielleicht ein bisschen viel für einen eher schmalen Roman.

Einziger gröberer Schwachpunkt ist, dass Mankell zwischendurch den Aufbau und die Struktur des Romans erklärt. Das wäre nicht nötig gewesen, weil sich dies dem Leser sowieso erschließt. Denkt man sich die paar Seiten weg, ist der Roman auf alle Fälle ein guter Startpunkt in die Karriere eines Schriftstellers. Dass es ein paar Längen gibt, fällt kaum ins Gewicht. Eine gewisse Bedächtigkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt ist der Roman stimmig und gelungen. Und er verdeutlicht, dass Mankell schon in jungen Jahren klug durchdachte Geschichten erzählen konnte.
Erfreulich, dass nunmehr "Der Sprengmeister" in deutscher Übersetzung vorliegt.

(Jürgen Heimlich; 07/2018)


Henning Mankell: "Der Sprengmeister"
(Originaltitel "Bergsprängaren")
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel, Annika Ernst.
Zsolnay, 2018. 192 Seiten.
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