Inger-Maria Mahlke: "Archipel"
Ein
Jahrhundert spanischer Geschichte
Inger-Maria Mahlkes Roman "Archipel" beginnt am 9. Juli 2015, zwei,
drei kleinliche Minuten nach 14 Uhr, in La Laguna, der alten Hauptstadt
des Archipels. Die Lufttemperatur beträgt 29,1 Grad, und der
Leser wird darüber informiert, dass um siebzehn Uhr
siebenundzwanzig das Tagesmaximum von 31,3 Grad erreicht werden wird.
Rosa, Ana und Felipe bereiten sich auf eine Ausstellung vor, die sich
"80 Jahre surrealistische Konferenz von Santa Cruz" nennt. Felipe und
Rosa haben nur eingewilligt, Ana zu begleiten, weil beide, als die
Einladung kam, ihre Ruhe haben wollten.
Langsam breitet die Autorin eine Art Panorama der Familie vor dem Leser
aus, welches in erster Linie durch kleine, unzusammenhängende
Alltagsmomente gezeigt wird. Zusätzlich wird Anas Vater Julio
vorgestellt, der mittlerweile fast 90 Jahre alt ist und stur weiterhin
den Empfangsdienst im Altersheim macht. Dabei will er eigentlich nur
die Tour de France im Fernsehen verfolgen. Es sind viele kleine
Momente, unzählige Nebenfiguren werden vorgestellt, und der
Leser weilt lange im Dunklen, wer hier was tut und welche Funktion das
im Gesamtkonzept dieses Romans hat.
Ana ist Politikerin bei den Konservativen und offensichtlich in einem
undurchsichtigen Netz von Korruption und Abhängigkeiten
verfangen, ob bewusst, unwissend oder gar als Täterin, ist
nicht eindeutig. Ein Projekt, das sich mit Visionen für einen
neuen Tourismus beschäftigt, wirbelt viel Staub auf, ein
kompromittierendes Telefonat Anas scheint Gegnern zugespielt worden zu
sein. Der Leser erlebt, wie der Gesprächspartner just nach
einer Lagebesprechung bei einem Autounfall stirbt. Es scheint ein
Zufall zu sein und kein Mord. Allerdings ist auch das nicht klar. Ana
muss sich auf Anweisung des Parteichefs verstecken, soll aber trotzdem
zur Trauerfeier kommen. Felipe hat offensichtlich viel Geld in die Ehe
mitgebracht, ist "Clubmitglied" und verbringt die meiste Zeit in einen
Klubsessel gefläzt, Alkohol trinkend. Warum das so ist,
weiß man lange nicht. Rosa, die gemeinsame Tochter mit Ana,
geboren 1994, macht, so die Personenbeschreibung am Ende des Romans,
etwas mit Kunst. Sie ist in Wahrheit Kunststudentin in Madrid und kehrt
eben anno 2015 auf die Insel zurück.
Dieser Teil des Romans, also die ersten drei Abschnitte, die sich mit
dem Jahr 2015 beschäftigen, machen knapp unter einem Drittel
des ganzen Romans aus. Am Ende dieser drei Teile weiß man
zwar viel über die Protagonistinnen und Protagonisten, schwebt
allerdings bezüglich der Zusammenhänge ziemlich in
der Luft. Und das, obwohl Inger-Maria Mahlkes Prosa eigentlich recht
eingängig, unkapriziös und erfrischend geradlinig
ist. Irgendwie sperrig ist das Zerfasern der Erzähllinien in
so viele kleine Mikroteile, da man natürlich geneigt ist,
Zusammenhänge zu suchen. Die Motivation zum Weiterlesen
besteht immer wieder im Vertrauen darauf, vor allem wenn man
Inger-Maria-Mahlkes vorige Romane kennt, dass auf den folgenden 300
Seiten zumindest gewisse Zusammenhänge und
Erklärungen geboten werden. Das ist natürlich auch
eine von der Autorin klug geplante Ausreizung, die ihren Lesern mutig
zumutet, die ersten 133 Seiten einmal auch ein wenig zu hadern.
Interessant ist, dass es eine Figur gibt (Einar), die eine ziemlich
nebulöse Rolle hat und dann im Personenverzeichnis am Ende
fehlt (in dem allerdings auch die Linie der Dienstbotinnen der Familie
angegeben wird).
Wer allerdings 2015 überstanden hat, wird belohnt. Von diesem
Punkt an geht es unterschiedlich rasant rückwärts.
Zuerst 2007, dann 2000, 1993, 1981, 1975, 1970, 1963, 1958, 1950, 1944,
1936, 1935, 1929 und 1919. Während dieses
Rückwärtstastens erfährt man viel
darüber, was bisher vage angedeutet oder überhaupt im
Unklaren war. Man erfährt, wieso Felipe, der vor seinem
Alkoholikerdasein als Wissenschaftler tätig war und die
spanische
Kolonialherrschaft aufarbeitete, plötzlich
die
Universität verließ und nun nur mehr Clubmitglied
sein will. Mahlke zeichnet die Geschichten beider Familien liebevoll
nach und führt den Leser rückwärts durch ein
Jahrhundert bewegter Historie. Politik, Diktatur, der Weg in die
Demokratie und natürlich das Florieren der Bauwirtschaft, die
bemüht ist, dem ausufernden Tourismus gerecht zu werden. Dass
dabei manches im Detail etwas zu kurz kommt, wie der
Militärputsch 1936 und die dadurch entstehenden Verwicklungen
der beiden Familien oder auch der von Franco verursachte
Westsahara-Konflikt, muss beim teilweise fast zu raschen
Rücklauf das eine oder andere Mal wehmütig zur
Kenntnis genommen werden. Gerne hätte man die eine oder andere
Alltagssituation aus dem Jahr 2015 gegen mehr Detailreichtum in der
Vergangenheit getauscht.
Wirklich spannend ist die Geschichte der Bautes (Anas Familie), einer
ehrlichen Arbeiterfamilie, aus der eben Ana in die Politik
aufgestiegen
ist. Auch die Bernadottes sind ein interessanter Clan, Militär
und Reichtum
im Hintergrund sowie tragische Verwicklungen, die bei so
einer Konstellation gar nicht fehlen können. All das ist
logisch, glaubhaft und stimmig in die politischen Umwälzungen
eingebettet. Durch den Weg zurück erfährt man sogar,
was es mit den Bergetappen der Tour de France auf sich hat ...
Den Bogen zum Anfang des Romans schließt Inger-Maria Mahlke
elegant mit dem Erscheinen von André Breton und
Óscar Domínguez, die ihre surrealistische
Werkschau organisieren, die 80 Jahre später von Ana, Felipe
und Rosa besucht werden wird.
Trotz aller hier angeführter Bedenken ist "Archipel"
letztendlich doch ein sehr gelungener Roman, der, obschon er vor allem
im Anfangsteil recht sperrig wirkt und insgesamt formal nicht perfekt
scheint, am Ende doch überzeugt. Es ist ein Roman, der im
Nachklang immer stärker wird und wahrscheinlich bei einer
zweiten Lektüre noch stärker scheinen wird. Und das
ist in jedem Fall ein Element wirklich guter Literatur. In diesem Sinn
ist die Nominierung für den "Deutschen Buchpreis" sicherlich
mehr als gerechtfertigt.
(Roland Freisitzer; 08/2018)
Inger-Maria
Mahlke: "Archipel"
Rowohlt, 2018. 430 Seiten.
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Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete dort am Lehrstuhl für Kriminologie. 2009 gewann sie den "Berliner Open Mike". Ihr Debütroman "Silberfischchen" wurde ein Jahr später mit dem "Klaus-Michael-Kühne-Preis" ausgezeichnet.