Claudio Magris: "Verfahren eingestellt"
Höchst
eigentümlicher Antikriegsroman mit kleinen Disproportionen und
großen Stärken
Claudio Magris gehört zu jenen Schriftstellern, deren Werk
stark vom Heimatort, der Heimatregion geprägt ist. Der
intensive Bezug auf Triest zieht sich durch sein ganzes Werk, sei es
mittelbar wie in der Doktorarbeit (des mittlerweilen emeritierten
Professors für deutsche Literatur) über den
Habsburgmythos in der österreichischen Literatur oder sein
großes Buch über die kulturelle Vielfalt entlang der
Donau "Donau: Biographie eines Flusses", sei es ganz direkt mit seinem
literarischen Reiseführer "Triest: Eine literarische
Hauptstadt in Mitteleuropa" oder seinem bislang letzten
veröffentlichten Buch, dem Roman "Verfahren eingestellt",
worin man zwei Hauptthemen unterscheiden könnte. Zum einen
handelt er vornehmlich vom Triest während des Zweiten
Weltkriegs (bzw. trägt sich währenddessen zu, denn es
wird eine gehörige Menge historisches Material verarbeitet),
zum anderen steht im Zentrum von "Verfahren eingestellt" ein Triestiner
Original, welchem Magris "rekonstruiert und zum Teil frei
erfunden, wie es die Autoren von historischen Romanen machen",
nachspürt, es ehrt und seinem Lebenswerk den eigenen Roman
verstärkend, potenzierend hinzufügt. Die Rede ist von
"Professor Diego de Henriquez, einem genialen und unbeugsamen
Triester von großer Bildung und verbissener Leidenschaft, der
sein ganzes Leben (1909-1974) damit zubrachte, Waffen und jede Art von
Kriegsmaterial zu sammeln, um ein originelles, überbordendes
Museum des Krieges einzurichten, das durch die Ausstellung so vieler
Instrumente des Todes dem Frieden dienen sollte."
Dieses Museum, das sogenannte "Museo della guerra per la pace",
seltener Antipode der unzähligen privaten Waffensammlungen
dieser Welt, steht übrigens in der Via Constantino Cumano
Nummer 22 in Triest Besuchern offen. Vermag man sich nun nicht nach
Triest zu begeben oder vermag man es zwar, verfällt dort aber
völlig dem Kaffee,
taugt der Roman auch dazu, einen guten Eindruck von dem Museum zu
vermitteln, zumal er sich inhaltlich wie strukturell stark daran
orientiert - man kann durchaus sagen, dass Magris die Museumsidee
episch weiterspinnt. Die meist auf ein bis zwei Seiten
beschränkten Beschreibungen einzelner Säle und Ausstellungsobjekte dienen zur
Gliederung, indem sie die Hauptgeschichte, die über
Diego Henriquez beziehungsweise über dessen
Sekretärin, immer wieder unterbrechen und ihrerseits Ausgang
zu kleineren, doch mitunter auch zahlreiche Seiten umfassenden
Abschweifungen bilden.
Dazwischen formt sich ein Gesamtbild dieses
seltsamen Museums des Krieges für den Frieden mit seinen
kunterbunt und mit einiger Mühe zusammengetragenen
Gegenständen, Henriquez' Lebenswerk. Man
stößt da auf Waffen aller Art (soweit Henriquez sie
sich leisten konnte, oft musste er sich statt der
Höllenmaschine selbst mit einer Fotografie begnügen),
aztekische Holzschwerter, südamerikanische Jagdbeile, einen
Degen der Leibwache Kaiser
Maximilians (das von diesem in Auftrag gegebene Schloss
Miramare befindet sich schließlich in nächster
Nähe zu Triest), auf allerlei Gerät aus dem
von Henriquez selbst erlebten Zweiten Weltkrieg, Sturmgewehre,
Maschinengewehre, deren Läufe Windhundschnauzen
ähneln, an Dinosaurier erinnernde Panzer, aber auch auf
sonstiges mit dem Krieg Zusammenhängendes, Flugabwehrsirenen,
Uniformen, Gulaschkanonen, letzte Fotografien Gefallener. Sogar
biologische Kampfstoffe wie giftige Kakteen hat Henriquez ergattert und
einen ganzen Saal dem Kriegführen mittels der Schrift
("Die Schrift, ein starker Dolch, der direkt ins Herz geht.
Er verwundet und heilt, aber vor allem verwundet er.", so
Henriquez), ausgestattet mit altem Schreibgerät und modernsten
Computern, Denunziationsschreiben und Büchern wie "Die
Protokolle der Weisen von Zion", "Mein Kampf", "Der Hexenhammer" und
ähnlichen "alten Wurfmaschinen des Hasses, je
dümmer, desto zerstörerischer" gewidmet.
"Der Bankier Soros bewegt viele
Nullen und
lässt
ein ganzes asiatisches Land zusammenbrechen, mehr, als tausend Bomber
zustande gebracht hätten."
Und
dieser Satz fällt im Saal Nummer 12, der die laut einer Notiz des
Museumgründers mächtigsten Waffen beinhaltet und das
Kriegführen mittels großer Geldsummen thematisiert:
Währungsspekulation, gesteuerte Hyperinflation (etliche
Banknoten mit vielen vielen Nullen), Söldnertum, Bestechung
und dergleichen mehr.
Einzelne ausgewählte Exponate nun werden dem historisch
versierten Claudio Magris Ausgangspunkt für damit in
Verbindung stehende Geschichten, das Sturmgewehr (MP44, mehr Details
dazu wie zu vielen anderen Waffen im Buch) führt
ihn zum Fall von Otto Schimek, der 1944 in Polen als Soldat der
Wehrmacht hingerichtet wurde, weil er den Gebrauch eben so eines
Sturmgewehrs zur anbefohlenen Exekution verweigert habe und dadurch ein
Märtyrer geworden sei, so die erste Version, oder auch
deshalb, so die aus heutiger Sicht wahrscheinlichere, weil er es als
Deserteur einfach zurückgelassen habe. Diese Geschichte von
Theorie und Gegentheorie verdeutlicht schön, wie sehr
unterschiedliche Auslegungen und Lesarten der Geschichte jederzeit in
die Gegenwart hineinspielen (auch Christoph
Ransmayr hat zu der Causa recherchiert und einen Text
veröffentlicht) und die sich involvierenden Gemüter
schnell Zwist und Hader anheim fallen können.
In einer anderen Geschichte heftet sich Magris auf die Fährte
eines berüchtigten Nazi-Bösewichts, der, ebenfalls
gebürtiger Triestiner, ab 1943 als SS-Oberster im adriatischen
Küstenland auch für die Verwandlung der Risiera di
San Sabba, dem am Stadtrand gelegenen Fabriksgelände einer
stillgelegten Reismühle in ein Gefangenen-, Folter- und
Konzentrationslager (angeblich das einzige auf italienischem Boden)
verantwortlich war. Er wird uns jedoch nicht bei der Ausübung
seiner unmenschlichen Tätigkeiten vor Augen geführt
(auf die Auswirkungen stößt man ohnehin an vielen
anderen Stellen des Romans), sondern kurz vor Kriegsende beim Feiern:
zu Führers Geburtstag versammeln sich im schönen
Miramare ein letztes Mal die wichtigsten Männer der Stadt (das
heißt, der eine oder andere Einheimische, der es sich leisten
kann, lässt sich bereits entschuldigen) zu einem Tanz auf dem
Vulkan, der die meisten von ihnen bald begraben wird. Magris scheut
nicht davor zurück, ein wenig in den Geist des Fanatikers zu
schlüpfen, lässt ihn Durchhalteparolen, an die
niemand mehr glaubt, ausgeben, sich gierig nach Frauen umschauen,
Gemälde des Schlosses in Augenschein nehmen und vor allem
seine Möglichkeiten bei der bevorstehenden Flucht
überschlagen (die Beschreibung seines Todes ein paar Wochen
später hat Magris in weiser Voraussicht Josef Winkler
überlassen).
Angesichts der natürlichen Düsternis, in die ein Buch
dieses Gegenstands getaucht ist, tut es gut, dass die längste
Zusatzgeschichte, "Das Beil des Chamacoco" einen kleinen humoristischen
Kontrapunkt setzt. Beim Chamacoco handelt es sich um einen edlen
Wilden, einen Indianer aus dem paraguayanischen Urwald, der sich mit
dem böhmischen Gelehrten Frič angefreundet hat, diesem zur
Entfernung eines heimtückischen Wurms in den Eingeweiden nach
Prag gefolgt ist und einige Jahre in der Moldaumetropole verbracht hat,
dort für Furore im allgemeinen und viele Anekdoten im
besonderen gesorgt hat (auch Jaroslav
Hašek
konnte solchem Stoff nicht widerstehen, wovon die Erzählung
"Der Chamacoco und die Prager Polizei" zeugt) und anno 1909 wurmlos und
anscheinend auch sonst unversehrt nach Südamerika
zurückgekehrt ist.
Magris
erzählt uns im Kern wahre Geschichten, deren
Leerstellen er mit seiner historisch
gesättigten und nicht
gerade kleinen Vorstellungskraft (die er für seine
Arbeit, erweckt es
den Anschein, mehr zu bremsen als anzuregen hat) füllt,
zuallermeist den Umständen
angemessen, vorsichtige, kenntlich gemachte Versuche bei Henriquez oder
frank und frei drauflosfabulierend beim Chamacoco (der in dem Roman
freilich auch eine ganz andere Rolle zu erfüllen hat).
Akribisch sich
an Fakten haltend verfährt er auch mit dem neueren
historischen
Material, während die Romanfiguren Höhen und Tiefen ihrer Menschlichkeit entfalten und
der Erzähler im übrigen souveränen Gebrauch
von Sprache und Tonfall macht,
nüchtern, teilnehmend, Überlegungen anstellend,
sich crescendo zu
eignen Fantasien emporschwingend und sarkastisch-apokalyptische Bilder
entwerfend ("unter
der Erde
oder in den Bergen von Asche müssen
sie
wie wild vögeln, ihre Anzahl wächst, und alle freuen
sich
darüber, denn so können sie den Feinden Gemetzel
vorwerfen,
die größer sind als die, für die sie selbst
Verantwortung tragen.") oder eine Kakteenart
auf den Namen Hitler taufend.
Dem Vorwurf, der Roman sei
nicht zur Gänze ausgewogen und überfrachtet (was in
gewisser Hinsicht zutrifft), könnte damit begegnet werden,
dass er ja das Museum und dessen letzlich aberwitzigen Anspruch mit
seinen Mitteln abbilden wolle oder, wie Magris selbst in Bezug auf
seine scheinbar drunter und drüber erzählten
Geschichten anmerkt, dass
die heutige Zeit zu komplex, widersprüchlich und
zerrissen sei, um ihr
mit traditioneller Erzählart noch beizukommen, zumindest
für die Darstellung eines großen, umfassenden
Krieges wird dies wohl stimmen.
Die Hauptgeschichte des Romans, "Luisas Geschichte", wird hingegen recht
kontinuierlich erzählt und ist an sich auch nicht
düster, es sei denn durch ihren tragischen Hintergrund und als
ständiger Quell für weitere Geschichten und
Spekulationen über den Krieg. Luisa heißt die
(diesen überlebende) Sekretärin von Diego de Henriquez,
Tochter eines afroamerikanischen Besatzungssoldaten und einer
jüdischen Mutter, die Großmutter hat die Risiera
nicht überlebt. Luisa erzählt davon, wie ihre Mutter
als kleines Mädchen von den Eltern auf einmal in die Obhut von
Vertrauenspersonen gegeben wurde und bei diesen einige heitere,
unbeschwerte Jahre an einer süditalienischen Küste
verbrachte, dann zu Verwandten nach Triest kam, dort bezüglich
des Geschehenen auf eine Mauer des Schweigens stieß und sich
aus den höchstens halbausgesprochenen Worten lange keinen Reim
machen konnte, bis sich ihr schließlich doch die ganze
grausame Wahrheit enthüllte.
Magris hat sich nicht nur ausgiebig mit Zeitzeugen unterhalten und
deren Berichte in die Figur der Luisa einfließen lassen,
sondern auch selbst im Nachkriegs-Triest (bis 1954 übrigens
als "Freies Territorium Triest", da auch das Jugoslawien Titos Anspruch
auf die Stadt erhoben hatte) Bekanntschaft mit jüdischen
Haushalten und dieser speziellen, anschaulich wiedergegebenen
Atmosfäre, zusammengesetzt aus Unausgesprochenem und Ermattung
und Gefühlen wie Trauer und Scham, gemacht.
Vermittels eines weiteren auf den Holocaust bezugnehmenden Aspekts, des
trotz Überlebens frühzeitig zu Tode Kommens, im Fall
der Mutter ist es eine vergangenheitsinduzierte Krebserkrankung,
lässt sich Magris auf das Wagnis - vermutlich ganz im Sinne
von Henriquez - ein, die körperllichen Vorgänge um
die Bildung des Karzinoms und die Körperabwehrreaktionen in
Begriffen und Bildern des Kriegs zu schildern.
Ein besonders wichtiger Punkt im Zusammenhang mit Luisa ist
das breit angelegte Räsonnieren über die seltene
jüdisch-schwarze Kombination, die sie darstellt. Magris'
Luisa, wie real, zusammengesetzt oder fiktiv auch immer, macht sich so
ihre Gedanken über die Gemeinsamkeiten der beiden
Völker, vor allem im Negativen als Rassismusopfer, sowie
über deren nicht immer friktionsfreies Verhältnis
zueinander
Auch einige Bemerkungen und Anekdotisches zu Diego de Henriquez werden
Luisa in den Mund gelegt, für das Übrige zeichnet der
imaginationsreiche Magris, der mit seinem Helden zu Lebzeiten angeblich nur
einmal kurz gesprochen hat, verantwortlich. Magris fühlt mit ihm
sein Sammlerentzücken angesichts neuer Erwerbungen, leidet angesichts seiner Erfahrungen mit diversen Behörden und
spürt besonders dem Punkt in der Biografie nach, wo die
negative Besessenheit von Henriquez mit seinem skurrilen Museum in
etwas Positives, die Bemühung, unmittelbar nach dem Krieg
ungestraft davongekommene Schwerverbrecher doch noch verurteilt zu
sehen, umschlägt. "Verfahren eingestellt" bezieht sich auf das
Ergebnis solch eines Unterfangens - in Triest geschah nichts
anderes als in den meisten anderen ähnlich strukturierten
europäischen Städten, indem viele Kollaborateure,
soweit sie sonst als ehrenwerte Personen galten und nicht allzu
sichtbar involviert gewesen, nicht oder kaum bestraft davonkamen.
Henriquez hat nämlich die Mauern der Risiera genau unter die
Lupe genommen, von Gefangenen in sie eingravierte Namen (in erster
Linie wohl die ihrer Mörder, Folterer und Denunzianten) auf
Papier übertragen und so ein paar dutzend Seiten an brisanten
Daten zusammengebracht. Allein, Verfahren können verschleppt
werden und Papiere verloren gehen oder in fremden Archiven verschlossen liegen, und ehe der Romanhenriquez (ebenso
wie der historische) bei einem spektakulären Brand in den
eigenen vier Wänden unter nicht restlos geklärten
Umständen ums Leben kommt, bleibt ihm noch Zeit für
einen oft ausgestoßenen und sehr selten erhörten
Aufschrei der Empörung, der Schriftsteller (und ehemalige
Senator der italienischen Linken 1994-1996), dürfen wir
annehmen, stimmt mit ein: "Es sind die anderen
Namen, die ich haben will, nicht die blutbeschmutzten Hände,
sondern die, die diese Hände geschüttelt haben, die
sauberen Hände der wahren Herren der Welt ..."
(fritz; 08/2018)
Claudio
Magris: "Verfahren eingestellt"
(Originaltitel "Non luogo a procedere")
Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.
Hanser, 2017. 400 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen