Sinclair Lewis: "Main Street"
Es ist besonders interessant,
dass Sinclair Lewis, der erste us-amerikanische
Literaturnobelpreisträger, gerade jetzt eine Renaissance zu erleben
scheint. Beim Lesen seiner Bücher merkt man auch sehr rasch, warum das
so ist. Im Roman "Das ist bei uns nicht möglich" denkt man, da hat einer
Donald Trumps Präsidentschaft aufs Korn genommen, bis man sich
überrascht daran erinnert, dass dieser Roman ja bereits 1935 geschrieben
wurde und nicht, wie zuerst vermutet, jetzt. Auch im Roman "Main
Street", der mit "Babbitt" und "Arrowsmith" zu den wichtigsten und
besten Romanen des Autors zählt, ist das, was da erzählt wird, aktueller
denn je.
Carol Milford ist eine junge Frau aus St. Paul in Neuengland, die es der
Liebe wegen in das Provinznest Gopher Prairie verschlagen hat. Sie ist
das, was man eine vom urbanen Weltgeist beeinflusste Protagonistin
nennen kann. Sie ist gebildet und kämpft für eine Welt, die besser und
heller sein soll. Vor allem soll sie freier sein. Auch wenn sie selbst
nicht frei von Vorurteilen und Selbstlügen ist, ist sie eine wundervolle
Figur, die sich perfekt für Sinclair Lewis' Anliegen eignet.
Sie verliebt sich in den ruhigen Will Kennicott, einen ungefähr vierzig
Jahre alten Arzt, der sich in Gopher Prairie wirklich wohl fühlt, und
zieht zu ihm in die kleine Stadt. Er bevorzugt das Gefühl, mitbestimmen
zu können, weil er sich nicht wie "eine weitere Laus im Pelz" fühlen
will. Ein Gefühl, das er mit einer Großstadt in Verbindung bringt.
Carols Mission wird es, Kunst und Kultur dahin zu bringen, Freiheit und
Fortschritt einzuführen. Sie sieht darin so etwas wie eine
missionarische Aufgabe.
In dem Ort, der, wie Sinclair Lewis in einer Art Prolog mitteilt,
genauso gut in einer ähnlichen Stadt in Ohio, Montana, Kansas, Kentucky
oder Illinois liegen könnte, ohne die Geschichte wesentlich zu
verändern, herrscht eine Art selbstgewählter Aristokratie. Das ganze
Dorf besteht praktisch nur aus der Hauptstraße, der Main Street,
an die zumindest alles irgendwie angrenzt. Es dauert nicht lange, bis
Carol feststellt, dass sie in ihren Bestrebungen auf verlorenem Posten
steht. Sie ist eine Außenseiterin, eine Zugereiste quasi, die es nicht
schafft, das ihr aus Prinzip und Engstirnigkeit entgegengebrachte
Misstrauen auch nur ansatzweise zu lockern. Schon gar nicht zu
überwinden.
Jene Familienclans, die dieses Dorf beherrschen, sind Spekulanten und
Provinzkaiser, die sich mit furchtbar bornierten Matronen und ebenso
furchtbar stumpfen Kindern schmücken. Es ist wirklich berauschend, wie
Sinclair Lewis ein Feuerwerk an gesellschaftskritischer Satire
abliefert, wie er seine Figuren zeichnet, egal welche. Da ist nicht
einmal eine kleine Nebenfigur, die nicht klar und stimmig gezeichnet
wäre. Natürlich sind hier nur Republikaner, die ihre Partei als das
"Werkzeug des Herrn" ansehen. Alles, was nur annähernd sozialistisch
riecht, wird verteufelt. Sozialisten sollten überhaupt gehängt werden,
so die generelle Meinung dieser stumpfsinnigen Dorfgranden. Und
natürlich sind das genau diejenigen, die gegen alles Fremde sind.
Insbesondere, wenn sie sich überlegen fühlen und nach unten treten
können. Da wird gegen alles gewettert, was nicht ihren Vorstellungen
entspricht. Alleinstehende Frauen, arme skandinavische Immigranten,
stinkende und mit schlechten Manieren versehene Deutsche. Und
umherziehende Wanderarbeiter, die zwar in vielen Bereichen unabkömmlich
sind, sind sowieso das Letzte. Da tritt man hinab, dass es
nationalistisch geprägte Herzen wahrscheinlich nur so freuen wird.
Carol versteht, dass sie nur gelduldet wird, weil sie mit einem
anerkannten Bewohner verheiratet ist. Wäre sie das nicht, würde sie
nicht einmal geduldet werden. Die Kleingeister lassen es Carol immer
wieder spüren. Freiheit spürt Carol nur, wenn sie hin und wieder
Ausflüge in die Großstadt macht, wo sie beeindruckt feststellt, dass es
Männer gibt, die freundlich und ungezwungen mit Frauen kommunizieren
können und sie mit aller natürlichen Selbstverständlichkeit als das
akzeptieren, was sie waren: gleichberechtigte Menschen. Sie trifft
heitere Suffragetten und saugt das kulturelle Leben der Großstadt ein,
bevor sie wieder zurück in die Ödnis reist.
Da Sinclair Lewis wusste, wie er einen derartigen Stoff wirkungsvoll zur
Geltung bringt, ohne dass man das Gefühl hat, eine moralische Belehrung
zu erhalten, erzählt er all das in Geschichten, die ein wenig wie eine
hochliterarische Telenovela anmuten. Da kommen alle zum Zug, jeder ist
irgendwie in das erzählerische Netz eingebunden. Das ist trotz der Länge
des Romans und der immer wieder extremen Detailgenauigkeit in den
Beschreibungen so unterhaltend und gut geschrieben, dass mancher Leser
die paar wenigen Durchhänger gerne den republikanischen Dumpfbacken in
Gopher Prairie anlastet. Beim Lesen dieses Romans erkennt man natürlich
auch, wie es passieren konnte, dass jemand wie Donald Trump Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika werden konnte. Denn Dörfer wie
Gopher Prairie gibt es auch heute noch zur Genüge, nur dass die
Dorfkaiser heute mit SUVS und Limousinen herumfahren.
Harry Sinclair Lewis war, abgesehen davon, dass er ein glühender
Feminist war, ein genauer Beobachter mit einem ganz feinen Gespür für
Sozialkritik, Gesellschaftskritik und mit einer erzählerischen Wucht,
die auch heute, vor allem, wenn seine Bücher so überzeugend frisch
übersetzt sind, wie diese Neuübersetzung von Christa E. Seibicke,
niemanden unberührt lassen wird.
(Roland Freisitzer; 06/2018)
Sinclair Lewis: "Main Street"
(Originaltitel "Main Street")
Aus dem
US-Amerikanischen von Christa E. Seibicke. Nachwort von
Heinrich Steinfest.
Manesse, 2018. 1008 Seiten.
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Sinclair Lewis (1885-1951), geboren in einer Kleinstadt in Minnesota, arbeitete als Journalist und Lektor in New York, San Francisco und Washington. Seit dem Erfolg seines Romans "Main Street" konnte er von der Schriftstellerei leben. 1926 erregte er großes Aufsehen mit seiner Ablehnung des "Pulitzerpreises", der ihm für seinen Roman "Arrowsmith" zuerkannt worden war; 1930 erhielt er als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis.