Paul Leppin: "Severins Gang in die Finsternis"
Ein Prager Gespensterroman
Ein
egozentrischer Flaneur und einige seiner Erlebnisse im Prag
vergangener
Zeiten: Viel Atmosphäre, wenig Inhalt
"Nach und nach begann er zu begreifen, daß die
Idylle dieses Sommers nur eine Täuschung war. Die verschlafene
Müdigkeit seines Herzens hatte ihn glauben gemacht,
daß jetzt der Trost darin eingekehrt sei und ein wirkliches
Glück. Aber die bösen Kräfte wohnten weiter
darin, sie wucherten im geheimen, während er lächelnd
den Mund seines Mädchens küßte und bissen
wie ätzende Säuren sein Inneres wund. Irgend etwas
hatte den flackernden Schatten in ihm aufgescheucht, vor dem er im
Winter geflohen war und den er im Dunkel der leeren Kirche wieder
erkannte." (S. 76)
Meilenweit davon entfernt, ein "Gespensterroman", wie es der einst
vermarktungstechnisch geschickt gewählte, jedoch
irreführende Untertitel verheißt, zu sein, bietet
"Severins Gang in die Finsternis" keine übersinnlichen
Elemente, also keine Geister, Spukschlösser oder dergleichen,
sondern einen jungen Prager, der auf der Suche nach Sinnesreizen,
Lusterfüllung und mitunter auch Gesellschaft ist und dabei
nicht selten Leid und Unheil verursacht. Sein "Gang in die Finsternis"
erweist sich in mehrfacher Hinsicht als Untergang, denn nicht nur
erleidet Leppins Protagonist einen Daseinsstillstand nach dem anderen
in einem Teufelskreis ohne Teufel, auch der Leser verspürt mit
fortdauernder Lektüre erlahmendes Interesse am angeblich so
großen Schicksal des ebenso charakter- wie ziellosen
Büroangestellten.
Geschildert wird Prag in vielen Facetten, wie man es bereits aus anderen
Romanen kennt, das besondere Licht, die Jahreszeiten, die Stadtbewohner
und naturgemäß die prächtigen
geschichtsträchtigen Kulissen, doch bleibt Severins Geschichte
vollkommen oberflächlich, allenfalls angedeutete Geheimnisse
verharren im Vagen und verleihen dem Roman keinerlei Glanz. Der
Protagonist schwächelt von Beginn an und taumelt als
Möchtegernlasziver durch sein überwiegend
ödes, gehätscheltes Elend, woran auch hochgestochene
Formulierungen und gediegener Sprachgebrauch nichts zu ändern
vermögen.
Paul Leppin, außer Schriftsteller verdienstbedingt auch
Bediensteter der Post- und Telegrafendirektion in Prag, wurde am 27.
November 1878 in Prag geboren, er war unter Anderem mit Max
Brod, Alexander Moissi, Gustav
Meyrink und seinem Kreis, mit Richard Dehmel und Else
Lasker-Schüler befreundet, wobei ihm der als Autor
(absolut verständlicherweise, wie man anmerken muss!)
wesentlich erfolgreichere Gustav Meyrink angeblich nicht selten als
Vorlage für Romanfiguren diente.
1928 wurde Leppin krankheitshalber vorzeitig in den Ruhestand
geschickt. Nachdem die Deutschen anno 1939 in die Tschechoslowakei
einmarschiert waren, wurde Paul Leppin von der Gestapo verhaftet. Nach
seiner Freilassung erlitt er einen Schlaganfall.
Paul Leppin starb am 10. April 1945 in Prag nach langem Siechtum an den
Folgen einer Erkrankung an Syphilis.
Der schmale Roman "Severins Gang in die Finsternis" wurde über
die Jahre immer wieder neu aufgelegt, beispielsweise anno 2015 als
erster Band der von Thomas Ballhausen herausgegebenen Reihe "Bibliothek
der Nacht" der "Edition Atelier", unter dem Motto "Entdeckungen
& Neuauflagen phantastischer Literatur aus Europa", und nun
eben auch bei "Vitalis".
Der im Prager Stadtviertel Smíchov angesiedelte
deutschsprachige "Vitalis-Verlag" wurde anno 1993 vom steirischen
Mediziner Dr. Harald Salfellner, der seit dem Jahr 1989 in Prag lebt,
gegründet. Kürzlich publizierte dieser Verlag nach
etlichen Terminverschiebungen also seine Neuauflage der erstmals anno
1914 und seither wie erwähnt bereits des Öfteren in
kleinen Verlagen wieder erschienenen lyrischen Erzählung
"Severins Gang in die Finsternis".
Einige der im Buch abgebildeten Originalillustrationen stammen vom am
28. März 1879 in Karlsbad geborenen und am 4. Juli 1948 in
Wien gestorbenen Künstler Richard Teschner, der als Vertreter
des Wiener Jugendstils und als Stabpuppentheatermacher bekannt war.
Dass der im Verhältnis zum Roman erstaunlich opulente und
allem Anschein nach mit angemessener Sorgfalt gestaltete Anmerkungsteil
dieser Neuauflage just Leppins Geschlechtskrankheit verschweigt, wirkt
befremdlich.
Ein alter Stadtplan, Ausführungen zur Edition, Faksimiles, die
Kapitel "Zur Entstehung und Wirkung" (man beachte darin die
segensreiche Wirkung prominenter Freunde ...) und "Severins Prag" (mit
Fotografien) komplettieren das ambitionierte Buchprojekt, den Abschluss
bilden die von Hugo Rokyta (1912-1999) verfassten "Erinnerungen an Paul
Leppin" sowie ein Literaturverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis und
weitere Anmerkungen.
"Eine übermächtige Sehnsucht nach dem
einfachen Glück dieser Menschen erfaßte ihn. Mit
einer dumpfen und grüblerischen Spannung versuchte er zum
hundertsten Male die Spur zu ergründen, die ihn seitab in eine
unselige Wildnis des Lebens führte. Und eine schmerzliche, von
Bangigkeit erdrückte, von Zweifeln zerrissene,
ohnmächtige Lüsternheit nach den Küssen des
Weibes verzehrte ihn jäh, das sein Begehren in derselben
Stunde entfacht hatte, in der ihm Lazarus vom Tode seines Kindes
sprach." (S. 86,87)
Man begleitet Leppins Severin, den lustlosen
Teilzeitbürokraten und mehr oder weniger passionierten
Flaneur, bei Spaziergängen durch Prag, wird allzu oft mit
Severins uncharmantem Umgang mit Frauen und seiner Sexsucht
konfrontiert. Dem Leser ergeht es wie Severin selbst: So ein Dasein als
verschlossener Tunichtgut lässt einen situationselastisch
völlig kalt, Wohl und Wehe des Protagonisten wecken keinerlei
Interesse. Die Erzählung plätschert ebenso
skandalfrei wie planlos dahin; offenbar wollte der Autor
primär seine Sprache, seinen Stil und natürlich
Prager Impressionen in die Auslage stellen und bedachte dabei nicht,
dass einem Roman zumindest eine einzige leidlich interessante Figur
wohl bekommt und ausufernde Abfolgen von lyrischen Schilderungen eher
lähmend als mitreißend wirken, mag der - warum auch
immer - ach so unwiderstehliche "Held" auch ein Frauenzimmer nach dem
anderen "beglücken". So ist es beispielsweise schon ein
(naturgemäß trauriger!) Höhepunkt, als
Severin den Raben des Buchhändlers vergiftet, und ein zweiter,
als der heillose Verführer gar selbst abserviert wird.
Die halbseidene Egozentrik des jugendlichen "Helden" veranschaulicht
beispielsweise diese Passage: "Die Vergangenheit und die
Gegenwart zogen wie die Bilder eines Panoramas an ihm vorbei und er
sah
verwundert und willenlos in seine eigene Existenz." (S. 106)
Einige weitere Figuren sind die mehrmals verlassene, treuliebende
Zdenka, die Nonne Regina, die verblühte Sängerin
Karla, der blickdichte Russe Nathan Meyer, der hintergründige
Nikolaus - allesamt extrem klischeebeladene Gestalten.
Im zweiten Teil des Romans stehen Ereignisse in der und um die aus
dunklem Bestreben betriebenen Weinstube "Spinne" mit dem
verführerischen Luder Mylada im Mittelpunkt. Seite 110
beschert das unspektakuläre Ende des am Beginn des 20.
Jahrhunderts angesiedelten Kurzromans im Rahmen einer Tombola mit
Sprengkraft.
Über unreif wirkende Koketterie mit Werken renommierter
Vertreter der einstigen Prager Schriftstellerszene vermag sich Leppins
Kurzroman an keiner Stelle zu erheben. Allenfalls ist "Severins Gang in
die Finsternis" als Zeitdokument von Interesse, ansonsten verbleibt
lediglich der Eindruck von schwülstigem Nebel.
(kre; 01/2018)
Paul
Leppin: "Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman"
Herausgegeben und kommentiert von Dierk O. Hoffmann und Julia Hadwiger.
Vitalis, 2018. 200 Seiten.
Buch
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Eine andere Ausgabe:
Edition Atelier, 2015.
128 Seiten.
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Digitalbuch
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Weitere
Bücher
des Autors und Buchtipps:
"Prager Rhapsodie"
In den Versen und Prosaskizzen des Dichters Paul Leppin ist Prag
Strich
um Strich, Gestalt um Gestalt eingefangen. Er plaudert nachdenklich
über alte Fotografien seiner Verwandten, führt in
Weinstuben, träumt von silbernen Dachrinnen, erzählt
Uhrmachergeschichten, philosophiert über das Altwerden,
erinnert sich einer alltäglichen Hinterhaustragödie,
berichtet von der Zusammenkunft ehemaliger Klassenkameraden. Es ist
eines der schönsten unter den zum Abschied vom alten Prag
geschriebenen Büchern. (Vitalis)
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"Hüter der Freude"
Von der völkischen und bürgerlichen Kritik von Anfang
an einhellig verdammt ("ein Sumpf von Abscheulichkeiten"),
wurde das satirischste Werk Paul Leppins seit der Erstausgabe im Jahre
1918 nicht mehr neu aufgelegt. Entsprechend hoch sind die Preise auf
dem antiquarischen Markt.
Ursprünglich unter dem Titel "Die Hedonisten"
angekündigt, blieb "Hüter der Freude" Leppins letzter
zu Lebzeiten veröffentlichter Roman. Bis zu seinem Tod am 10.
April 1945 musste er miterleben, wie er zunehmend literarisch mundtot
gemacht, nach dem Einmarsch der Nazis in
Prag
gar inhaftiert wurde.
Auch im neuen Jahrtausend sind viele Manuskripte ungedruckt.
Leppin karikierte in "Hüter der Freude" die Gepflogenheiten
seiner eigenen Zunft, die der Prager Literaten und Künstler in
ihren diversen Biotopen (wofür sich u.a. Franz Werfel
später prompt revanchierte). Unbestechlich entlarvt er die
Heucheleien der "Wohlanständigen" aller Fraktionen, nimmt
gnadenlos die von seinen Zeitgenossen selten hinterfragte
Kriegsbegeisterung und Judenfeindlichkeit aufs Korn. Und wurde darauf,
obwohl Katholik,
schon lange vor der "Machtergreifung" in vielen Literaturlexika als
"Jude" diffamiert.
Die vorliegende, qualitativ hochwertige Faksimile-Neuausgabe ist
ergänzt um eine illustrierte Einleitung, worin nicht nur heute
weniger gebräuchliche Wörter erklärt und die
Anspielungen auf historische Örtlichkeiten, Personen und
Lokale entschlüsselt werden. Auch die Rezeptionsgeschichte
wird mit vielen Beispielen und Zitaten aufgearbeitet und der Wert von
Leppins umstrittener Dichtung auch im Hinblick auf die heutige Zeit
gewürdigt. (SSI)
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Peter Becher, Steffen Höhne,
Jörg Krappman, Manfred Weinberg (Hrsg.): "Handbuch der
deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder"
Das "Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen
Länder" gibt einen umfassenden Überblick
über die Literatur einer mitteleuropäischen Region
und ihre Entwicklung seit der Aufklärung. Dabei werden
bisherige Konzeptualisierungen, die u.A. von einer strikten Trennung
der Prager von der sogenannten sudetendeutschen Literatur ausgingen,
überwunden. Das Handbuch bietet vielmehr eine transkulturelle
und transregionale Neuverortung der deutschsprachigen Literatur der
Böhmischen
Länder im komplexen Wirkungs- und
Spannungsfeld von deutscher, jüdischer, tschechischer und
habsburgischer Literatur und Kultur. (J.B. Metzler)
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"Mit diesen meinen zwei Händen
... Die Bühnen des Richard Teschner"
Felix
Salten brachte es auf den Punkt: "Die Hauptsache
ist das Puppenspiel. Da sind freilich noch Zeichnungen und Bilder,
Statuen aus Holz und Alabaster, Figuren in Speckstein und in
Selenit.
Aber das Puppenspiel ist die Hauptsache."
Tatsächlich war Richard Teschners (1879-1948) symbolistisches
Figurentheater, in dem sich das Entrückte mit kühner
technischer Innovation verschränkte, die Sublimierung einer
ungewöhnlichen künstlerischen Laufbahn. Das
Theatermuseum besitzt als einen seiner zentralen
Sammlungsbestände den Nachlass Teschners und widmete dem
"Magier von Gersthof" und den herausragendsten Objekten, darunter
der
legendäre Figurenspiegel, zwei Schauräume.
In der Stabfiguren-Technik hat Richard Teschner, einer der
bemerkenswertesten Vertreter des Wiener Jugendstils, neue
Maßstäbe gesetzt. Teschner war
außergewöhnlich vielseitig begabt: Er war Maler,
Grafiker, Bildhauer, Puppenspieler und noch vieles mehr. Mit seinem
revolutionären Figurentheater schuf er von den Puppen
über die Stücke bis hin zur Bühnentechnik
und Begleitmusik ein theatralisches Gesamtkunstwerk. Ausgehend von
der
javanischen Stabfigur entwickelte er einen neuen, ausdrucksvollen
Puppentypus für seine pantomimischen Spiele. Die
Überwindung der herkömmlichen
Guckkastenbühne führte zum einzigartigen Rund des
Figurenspiegels mit Bildern von großer Schönheit und
suggestiver Wirkung.
Dieser umfangreiche Katalog wurde im "verlag filmarchiv austria"
veröffentlicht.
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