Donna Leon: "Heimliche Versuchung"

Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall


Venezianischer Krimi mit gewohnter Raffinesse, Lebenslust des Protagonisten und unvorhersehbaren Wendungen

In seinem 27. Fall hat Brunetti es mit dem Verdacht auf Drogenangelegenheiten zu tun. Signora Crosera, eine Professora und Kollegin von Brunettis Frau Paola, wendet sich an den Commissario. Sie befürchtet, dass ihr Sohn, der auf eine teure Privatschule geht, Drogen nimmt. Obwohl die Mutter in Sorge um ihren Sprössling ist, zeigt sie sich der Polizei und Brunetti gegenüber nicht sehr kooperativ, was ein Einschreiten und offizielle Ermittlungen erschwert bzw. unmöglich macht. Dennoch hört sich der Venezianer, selbst Vater einer Tochter und eines Sohns, auf eigene Faust um. Tatsächlich geht das Gerücht um, dass an einigen Schulen, unter Anderem an besagter Privatschule, Drogen an die Schülerinnen und Schüler verkauft werden. Aufgrund zu weniger Hinweise und der Tatsache, dass die Professora Brunetti nicht erlaubt, mit ihrem Sohn zu reden, verlaufen die Ermittlungen wieder im Sand.

Doch als eines Nachts ein schwer verletzter Mann am Fuß einer Brücke gefunden wird und ein Fremdverschulden nicht auszuschließen ist, wird Brunetti hellhörig - denn bei dem Verletzen handelt es sich um keinen Geringeren als den Mann der Professora und Vater des Jungen, der angeblich Drogen nimmt. Ist er dem Drogenhändler seines Sohnes auf die Spur gekommen? Hat er ihn zur Rede gestellt? Gedroht, sich an die Polizei zu wenden? Fest steht, der Mann liegt mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus und wird vielleicht nie wieder aufwachen.

Spätestens jetzt widmet Brunetti diesem Fall seine ganze Aufmerksamkeit. Die heißeste Spur scheint der Verdacht auf Drogenmissbrauch des Sohnes zu sein. Es gelingt dem Commissario sogar, den Drogenhändler auszumachen, der angeblich für besagte Privatschule "zuständig" ist. Doch bald zeigt sich, dass der Mann kaum in der Lage ist, ein Drogengeschäft zu führen.

Unerwarteterweise führen die Hinweise zu der Tante des Schwerverletzten. Als sich dann noch mysteriöse Gutscheine von ihr für eine Apotheke finden, die einige hundert Euro wert sind, verdichten sich die Hinweise in eine ganz andere Richtung. Irgendwie scheint jener Apotheker, der die Gutscheine ausstellt, verdächtig und in illegale Machenschaften verwickelt zu sein. Immer mehr Leute werden verdächtigt, und am Ende gelingt es Commissario Brunetti selbstverständlich, sowohl die verdächtigen Gutscheine zu erklären, als auch den Täter zu finden, der den Mann von der Brücke gestoßen hat. Und mit Drogen hat das nicht mehr viel zu tun ...

In gewohnt unaufgeregter Weise stürzt sich Brunetti in das neueste Verbrechen. Gemeinsam mit seinen Kollegen folgt er diversen Spuren und spaziert dabei durch seine geliebte Stadt, genießt die gustatorischen Reize, die Italien zu bieten hat, und gönnt sich den einen oder anderen Kaffee oder Grappa. Das Buch hat den Charakter eines Krimis, ist aber viel entschleunigender und angenehmer zu lesen, als die meisten Bücher über Verbrechen, Mord und Totschlag. Donna Leon gelingt es, eine spannende Thematik in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und das Leben dabei Eingriff nehmen zu lassen. Auch am Ende hat das Leben seine Finger im Spiel, und der eine oder andere Leser würde sich vielleicht wünschen, dass die schuldige Person am Ende nicht bestraft wird, waren ihre Motive doch sehr nachvollziehbar - wenn auch nicht zu entschuldigen ...

"Heimliche Versuchung" ist Donna Leons nächste Glanzleistung - als Urlaubslektüre, für entspannte Stunden im Grünen oder aufregende Momente im Schatten.

(Alexandra Gölly-Liebich; 06/2018)


Donna Leon: "Heimliche Versuchung. Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall"
(Originaltitel "The Temptation of Forgiveness")
Übersetzt von Werner Schmitz.
Diogenes, 2018. 327 Seiten.
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