Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr"

Roman der frühen Jahre


Die Kindheit des Autors

Autobiografische Romane verfahren sich immer wieder in der Frage, was denn nun erzählenswert sei, was zu weit geht, in Richtung Selbstentblößung beispielsweise, und dabei trotzdem für den Leser von Interesse ist. Bodo Kirchhoffs Roman "Dämmer und Aufruhr", der mit "Roman der frühen Jahre" einen sehr präzisen Untertitel hat, geht aufs Ganze und ist dank der immensen literarischen Größe des Autors ein (unnachahmliches) Musterbeispiel dafür, wie man den Leser mit auf die Reise durch die eigene Vergangenheit nehmen kann. Auch wenn das alles, oder zumindest zum größten Teil (wer weiß denn wirklich, wie des Schriftstellers Fantasie wirklich Erlebtes in einem Roman abbildet?) wahr ist, liest sich dieser Text wie ein spannender Roman und nicht wie ein autobiografischer Text. Vielleicht deshalb, weil Kirchhoff ein extrem ausgeklügeltes Erzählsystem konstruiert hat, das auf verschiedensten Ebenen spannend funktioniert.
"Wer spricht da, wenn einer von früher erzählt, auf sein erstes Glühen in der Kindheit blickt, wessen Stimme macht hier den Anfang, sagt Es war einmal - ein unvergesslicher, gültiger Alpensommer. Jubelrein der Himmel, wie gestochen die Berge, die Spitzen, hell ihre Hänge und Matten, bläulich der Wald darunter, dunkel ein Moorsee zum Baden; und oberhalb des Sees ein Gasthof mit Gewölbegang, davor zwei Liegestühle auf fetter Wiese, in einem, das Gesicht verdeckt, ein Kind mit Sonnenhut, im anderen die noch junge Mutter, tagelang seine Allmächtige."

Da gibt es das Jetzt, das der nun selbst ältere Schriftsteller im kleinen, alten Hotel "Beau Sejour" am Strand von Alassio an der Riviera die Fiori verbringt. Dort schreibt er diesen Roman, dort geht er den Spuren seiner Eltern nach, dort stellt er sich seine Eltern vor, möglicherweise ganz anders, als es gewesen ist, doch zumindest den Erzählungen der Mutter nach. Hier trifft er eine ältere Amerikanerin, die normalerweise genau jenes Zimmer innehat, das er jetzt belegt, welches früher seine Eltern belegt hatten.

Als Gegenpol dazu gibt es einerseits die Kindheit, von den ersten schwammigen Erinnerungen als drei- oder vierjähriger Bub bis hin zu den Erinnerungen, die der nun längst erwachsene Bodo Kirchhoff an die letzten Besuche bei seiner Mutter im Altenheim hat. Sehr klug gewählt ist in diesen Teilen die Erzählperspektive, die wie von außen, aus einem ganz anderen und dennoch irgendwie verbundenen Leben auf das des Kindes, des Jugendlichen und des Erwachsenen blickt. Distanziert und genau deshalb besonders treffsicher sind diese Teile, virtuos ist die Verbindung zwischen all den Zeiten, die geschildert werden. Aus jetzt fallenden Worten, Aussichten auf das Meer oder Begegnungen werden Brücken zur Vergangenheit geschlagen, aus Ereignissen von damals wird ebenso virtuos in eine damit zusammenhängende Situation im Jetzt geführt.

So nimmt man an den Kindesjahren des Protagonisten, der natürlich Bodo Kirchhoff ist, teil. Man erlebt ihn mit seiner Mutter, der Schauspielerin, die nicht nur im Theater auf der Bühne steht, sondern auch im Leben. Und dabei gibt es nur zu bestimmten Zeiten Platz für den Sohn. Und für die jüngere Tochter noch weniger. Beide verbringen die meiste Zeit bei der Großmutter, der ehemaligen Opernsängerin. Die Tochter auch woanders, wo allerdings, das ist dem Jungen nicht wirklich klar. Dem Leser auch nicht. Der Vater, Erfinder und Kriegsveteran mit einem Holzbein, der von einem SA-Zahnarzt, der höchstwahrscheinlich der Liebhaber der Opernsängerin war, mit der Mutter verkuppelt wurde, ist ebensowenig greifbar, wie die Mutter. Als die Eltern das baldige Aus ihrer Ehe kommen sehen, wird der Junge in ein Internat geschickt.

Bereits in diesem frühen Abschnitt, bei einem Sommerurlaub des Vierjährigen mit der Mutter, gibt es Stellen, die viel zu intim sind, sodass sie im Umgang von Mutter und Sohn einfach unmöglich und falsch anmuten. Irgendwie ist der kleine Junge nicht als Sohn mit der stilvollen, feschen und auffallenden Schauspielerin unterwegs, sondern fast als "Liebhaber".
"Ein knapp Vierjähriger kniet zwischen den Fersen der Mutter, die nackt auf dem Bauch liegt, das Gesicht in der Armbeuge; er folgt der Trägheit seiner Augen und kann etwas vom Geheimen sehen, wo die Schenkel sich treffen, von den Fältchen dort, dem dunklen Gras der Haare, den Mulden und den Kräuselungen, und was er sieht, gräbt sich ein, als leeres Schlüssellochbild."

Das Leben im Internat ist so, wie man es sich in den späten 1950er-Jahren vorstellt. Harte Bandagen, heutzutage unvorstellbare Demütigungen der Schüler, psychologisch komplett misslungene Pädagogik. In diesem Umfeld trifft der Junge auf einen gutaussehenden, langhaarigen, "Roth-Händle" rauchenden Pastor, Kantor und Musiklehrer, der die emotionale Leere des Jungen für seine perfiden, pädophilen Neigungen ausnutzt. Er beginnt, sich an dem Jungen zu vergehen, findet immer neue Gründe, ihn auf sein Zimmer zu holen. Bis das Ganze auf einer Finnland-Tournee des Schulchors implodiert, zu viele junge Burschen sind offenbar Opfer des Mannes geworden, sodass ein Wort das andere gibt und der Lehrer nicht einmal auf der Heimreise mit den Schülern ist. Er hat sich mehr oder weniger in Luft aufgelöst, nach Südamerika soll er gegangen sein. Aufgeklärt wird das nicht, die Wunden und Narben dieser Sache werden noch lange zu spüren sein. Ohne den Tatbestand dadurch zu mildern, ist das Sensationelle hier der literarische Wurf Kirchhoffs, nämlich die Schilderung selbst, diese Mischung aus abgeklärtem Wissen, weil eben aus der Perspektive des distanzierten Rückblicks (hier erzählt Kirchhoff von dem Jungen) und einer nichtverurteilenden und fast naiv anmutenden Erzählweise, die es allein dem Leser überlässt, seine Folgerungen anzustellen. Das ist durchzogen von Schlüssen und Konsequenzen, die allerdings allein dem heutigen Autor zuzuordnen sind. Gedanken, die ein elf- oder zwölfjähriger Junge einfach nicht haben kann, weil er das emotional nicht zuzuordnen in der Lage ist. Ein größeres Plädoyer für den Schutz von Minderjährigen kann es fast nicht geben. Was Bodo Kirchhoff hier schafft, ist sicherlich ein Meilenstein in der Schilderung exzessiven sexuellen Missbrauchs an Kindern. Das ist so stark, dass man beim Lesen immer wieder stockt, anhält, fassungslos das Buch zur Seite legen muss, einfach, um kurz innezuhalten und zu sich zu kommen. Ohne dass das je mit Pathos oder Gefühlsduselei auch nur annähernd in Verbindung gebracht werden könnte.

Alle Versuche, seinen Eltern sein Leid nahezubringen, enden in Sprachlosigkeit. Als das letzte, was er will, ein Aufeinandertreffen mit dem Kantor ist, freuen sich seine Eltern, dass der Kantor nach den Ferien auf dem Weg ins Internat bei ihnen vorbeifährt und den Jungen mitnehmen will. So müssen sie keine Zugfahrkarte kaufen.
"Das Jahr nach der Rückfahrt ins Internat im Auto des Kantors, die Zeit vom Spätsommer über den Herbst und Winter und ein langes Frühjahr bis in den nächsten Sommer hinein, hatte in dem Übermaß an Erlebtem und dem Mangel an Sprache dazu eine Schwerkraft, die bis heute wirkt, die Bilder aus dieser Zeit verzerrt, sie krümmt wie nach Gesetzen einer intimen Physik."

Die Schul- und Studentenjahre sind geprägt vom emotionalen Aufwachsen des Jungen, der die Last des Geschändeten mit sich trägt und daher viel mehr Mühe hat, seinen Weg zu finden. Vor allem im Bereich der Sexualität und des Vertrauens.

Wunderbar gezeichnet sind ebenso die Eltern des Protagonisten, die er, trotz aller Schuld, Vernachlässigung emotionaler und physischer Natur, nicht verurteilt. Er nimmt zur Kenntnis, er pflegt mit beiden jene Art von Beziehung, die mit dem jeweiligen Elternteil möglich ist. Selbst Momente, die auch im Umgang mit der Mutter zutiefst fragwürdig sind, nimmt er ihr nicht übel. Am Ende ihres Lebens sind es ihre nun längst erwachsenen Kinder, die sich um sie kümmern. Es ist sicherlich immense Größe notwendig, um trotz allem so wunderbare, lebendige und liebevolle Porträts seiner Eltern zu zeichnen.

In einem Interview zur "#metoo"-Debatte hat Kirchhoff das Fehlen des "Dramas der Details" bemängelt. Seiner Meinung nach geht es "doch nicht um den Plot, wer wen wo in die Enge getrieben habe, es gehe um die Zwischentöne und Einzelheiten in der Interaktion von beiden Beteiligten. Das wahre Drama bleibe immer unerzählt." Genau das aber ist die Quintessenz dieses Romans, in dem es genau um diese Zwischentöne und Einzelheiten in der Interaktion der Beteiligten geht. Kirchhoffs Prosa geht hier nie den einfachen Weg, sie ist immer komplex, manchmal vielleicht im ersten Moment stilisiert oder stellt sich gar gespreizt anmutend in den Weg, doch genau das ist es, was hier so wichtig ist. Der Leser wird solcherart gezwungen, seinen Weg durch diesen Text zu finden, ihn langsam zu gehen und alle Verästelungen und Umwege als zusätzliche Informationsquellen zu verstehen. Nur so ist es möglich, das Unerhörte, von dem der Erzähler berichtet, in seiner vollen Tragweite wirklich zu sehen. So öffnet sich dem Leser das wahre Drama mit dem Verlauf der 462 Seiten, die diesen wundervollen, detailreichen, harten und unvergesslichen Roman ausmachen.

(Roland Freisitzer; 08/2018)


Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2018. 462 Seiten.
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