Imre Kertész: "Der Betrachter"
Aufzeichnungen 1991-2001
Der im März 2016 verstorbene Imre Kertész war eine außergewöhnliche Erscheinung des europäischen Geisteslebens. Berühmt geworden mit seinen in viele Sprachen übersetzten und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Romanen, war Kertész auch ein fleißiger Tagebuchschreiber, besonderer Tagebücher freilich, wo er sprachlich sorgfältig ausgearbeitet und präzis in kurzen, im Durchschnitt vielleicht halbseitigen Texten Überlegungen zu seinen großen Themen, selten zu eigenen Befindlichkeiten, öfter zu den beobachteten gesellschaftlichen Verhältnissen, bevorzugt zu Kunst und Literatur anstellte. Da nun frische Nahrung nicht in Sicht ist, die Aufarbeitung seines heftig umfehdeten Nachlasses andauert und somit noch nicht so bald mit Veröffentlichungen daraus zu rechnen ist, sei die Aufmerksamkeit auf das bislang letzte auf Deutsch erschienene Buch des Schriftstellers, das seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1991-2001 und somit weitgehend seine eigenen Sechziger umfasst, gelenkt.
Diese beinhalten unter anderem Auseinandersetzungen des Schriftstellers mit verschiedenen Bereichen der sich rasch verändernden Welt nach dem Fall des Kommunismus, wozu Kertész spöttisch anmerkt, dass dieses Ereignis, primär eine innersowjetische Angelegenheit, so gut wie nichts mit ungarischen Dissidenten, wie viel sich diese im nachhinein darauf zugute halten mochten, zu tun gehabt habe. Kertész beobachtet die gravierenden Veränderungen, wie sie in jenem Jahrzehnt sichtbar werden, und die umso auffälligeren Kontinuitäten mit leidenschaftlicher Distanz, manchmal geradezu mit einer Note grimmiger Verachtung. "Hieronymus Bosch könnte im heutigen Budapest schwelgen in der Fülle von Motiven und Modellen für seine Höllenbilder.", lautet der unschmeichelhafte Befund für seine Heimatstadt. Einige von diesen schönen Bildern sind auch für die Leser festgehalten, sei es, dass dem Betrachter in den Gesichtern der Passanten vorwiegend verborgene rastlose Leere und verzweifelte Langeweile auffallen, er unvermutet mit Ausbrüchen heftiger Gehässigkeit in der Öffentlichkeit konfrontiert wird, der ungarischen Intelligenz Feigheit, von tausend Nebensymptomen dummer Aggressivität begleitet, diagnostizieren muss oder sich mit den mentalen Adaptierungen ehemaliger Schergen des "Proll-Dämons" János Kádár an die neue Zeit beschäftigt. In Bezug auf den in den neunziger Jahren wieder an die Oberfläche gelangenden Antisemitismus kritisiert er die ungarische Gesellschaft als unfähig, ihr Judentum zu integrieren, und mokiert sich über lächerliche Anpassungsversuche der ungarischen Juden, die unfähig seien, sich als Judentum zu definieren.
"Hör dir die Johannes-Passion an. Ja, sage ich, aber Bach kannte noch nicht Auschwitz, nur die Hölle."
Das große Hauptthema, Lebensauftragsthema des Schriftstellers wird auch in "Der Betrachter" ausführlich erörtert: das Wesentliche am Holocaust. Allerdings spricht er weder vom Holocaust noch der Shoah, sondern von Auschwitz, der Teil steht fürs Ganze und zwar ein Teil, mit dem der knapp fünfzehnjährige Imre Kertész Ende 1944, als Zwischenstation zu einem, wie sich dann bei der Befreiung herausstellen sollte, halbjährigen Aufenthalt im Konzentrationslager Buchenwald, Bekanntschaft machte. Dabei zeigt sich Kertész von der tiefen Überzeugung getragen, "Auschwitz mußte durchlebt werden, sowohl als Opfer als auch als Henker, und in diesem Erleben kommt etwas zum Ausdruck." Zum Beispiel das Erlöschen einer zweitausendjährigen Kultur: die Christen und christlich geprägten gebildeten Humanisten hatten dem Ungeist bekanntlich wenig entgegenzusetzen, dem Zeitgenossen wiederum, Papst Johannes Paul dem II. wirft Kertész in diesem Zusammenhang vor, durch seine Bemerkung, die Shoah sei nicht die Tat des Christentums, das Christentum indirekt zum toten Mythos erklärt zu haben (während er selber glaubt, mit der eigentümlichen apokalyptischen Religiosität von Büchern wie "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" und "Der Spurensucher" zu einer Fortsetzung christlicher Kultur beigetragen zu haben). Zum Beispiel auch, dass sich Auschwitz nicht in Einrichtungen der frühen vierziger Jahre erschöpft (und nicht wesentlich eine deutsche Affäre ist), sondern als Möglichkeit der Paarung menschlicher Charakterschwächen mit den ins Totalitäre gehenden Errungenschaften und Erfordernissen unserer modernen industriellen Massengesellschaften längst Teil der menschlichen Wirklichkeit geworden ist. "In Auschwitz hat sich die Wirklichkeit entlarvt, die Tatsächlichkeit, die Daseinsform, in der wir leben", heißt es einmal ganz und gar unverblümt, und in Bezug auf den Zeitgeist der Neunziger: "Ja, in dieser Zeit hat jeder Angst vorm Verschwinden, davor, überflüssig zu werden, während er mit noch nie gesehener Bereitwilligkeit nach der Art und Weise sucht, wie er seine schwere und verantwortliche Individualität aufgeben könnte." Zu kritisieren findet Kertész mehr als genug. Den bekannten Satz von Adorno bezeichnet er als Missverständnis, der in Deutschland üblichen Gedenkkultur wirft er vor, das Tabu als Mittel der Entfremdung, als Mittel des Rituals, das die Vergangenheit leblos und unerlebbar mache, einzusetzen, und der Unterschied zwischen Holocaustrelativierern und Steven Spielberg sei, dass Erstere mit einer Anklage zu rechnen haben, während Letzterer wahnsinnig viel Geld damit verdient.
Trotz alledem handelt es sich bei Kertész um keinen Pessimisten, auch wenn er, wie so ein Tagebuch es schön offenbart, seine pessmistischeren Ânwandlungen hatte, in denen er etwa dem dekadenten Europa profezeite, "übrig bleiben werden die Wissenschaft (als Diener der Macht), Computerspiele und das unser Bewusstsein aushöhlende Fernsehen". Doch Imre Kertész ist ein religiöser, mit Urvertrauen ausgestatteter Mensch, der sein Leben und seine Begabung als Gnade, den Gencode nicht weniger transzendent als den Begriff der Seele ansieht und in Zukunftsfragen dann doch zur Anschauung gelangt, selbst wenn sich gerade vor unseren Augen eine alte Kultur auflöse, müsse daraus doch wieder ein religiös-kulturelles Erlebnis entstehen. Für die Theodizeefrage hat er überhaupt nichts übrig, betont stattdessen in seiner Gottes- und Weltsicht Freiheit und Schöpfertum. "Wenn Gott tatsächlich existiert, dann ist er nicht auf die selig gewordenen Menschen neugierig, sondern auf die tausendfältige Art der Existenz, in der er sich selbst erkennt."
Letzter Satz könnte auch von einem vielleicht weniger religiösen deutschen Dichter und Denker stammen, und in der Tat zeigt sich Kertész in seinen literarischen und musikalischen Vorlieben dem deutschen Kulturkreis eng verbunden. Wir erleben Kertész in "Der Betrachter" regelmäßig bei seiner mitunter äußerst interessanten Beschäftigung mit den Werken verschiedenster Schriftsteller, die er in der Zeit, meist zum wiederholten Male, der Lektüre unterzieht und dabei kritische und positive Anmerkungen zu Geistesgrößen wie Goethe, Nietzsche, Heidegger, Kafka, T. Mann, Frisch, Wittgenstein (mit welchem ihn der Perfektionismus verbindet), Balzac, Camus, Cioran und Beckett (um wirklich nur einige wenige zu nennen) festhält. Von seinen Landsleuten schätzte er übrigens besonders Márai und Krúdy, mit dem Komponisten György Ligeti scheint er eng befreundet gewesen zu sein. Und auch mit seiner eigenen Literatur, die er in den Neunzigern als weitgehend un- oder missverstanden ansieht, setzt sich Kertész wiederholt auseinander. Und filosofiert über die Wechselwirkung zwischen Leben und Literatur und über den bürgerlichen Roman und manches mehr. Und im übrigen sei es so, dass die größten und wichtigsten Gefühle wahrscheinlich literarisch nicht formulierbar sind.
Politisch sah sich Kertész als "freisinnig, demokratisch und konservativ zugleich", ein besonderer privater Schicksalsschlag, der Einzug in die Aufzeichnungen fand, war der Tod seiner ersten Frau Albina im Oktober 1995, und in Hinblick auf seine tieferen Seelenschichten spricht er, wohl nicht ganz frei von Koketterie, also: "Wer ist schon neugierig auf das Ungeheuer, das ich bin."
In "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 - 2001" kann man einem großen jüdischen, christlichen, ungarischen und natürlich auch europäischen Schriftsteller begegnen und sich von seinen außergewöhnlichen Sichtweisen und Überlegungen auf vielfältige Weise anregen und herausfordern lassen.
(fritz; 06/2018)
Imre Kertész: "Der Betrachter.
Aufzeichnungen 1991-2001"
(Originaltitel "A NÉZŐ. Feljegyzések 1991-2001")
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2016. 256 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Rowohlt, 2017.
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