Eric Kandel: "Was ist der Mensch?"
Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten
In
seinem Buch geht der Nobelpreisträger für Medizin und
gebürtige Wiener Eric Kandel der Frage nach, wie komplexe
Hirntätigkeiten die menschliche Natur prägen und
ausmachen. Man kann sich diesem Thema besonders gut nähern,
indem man Störungen des Gehirns aufgrund von Verletzungen oder
Krankheiten untersucht. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass das
Normale und das Abnormale immer den Definitionen einer Gesellschaft und
dem Zeitgeist unterliegen.
Eric Kandel schafft es auf bemerkenswerte Art und Weise, einen derartig
komplexen und vielschichtigen Gegenstand für Laien
verständlich und doch wissenschaftlich fundiert aufzubereiten.
Zwar darf man sich beim Lesen dieses Buches keine leichte
Entspannungslektüre erwarten, dennoch muss man sich nicht mit
unverständlichen Fachtermini quälen. "Was ist der
Mensch?" ist ein Musterbeispiel dafür, dass Qualität
und Wissen nicht von der möglichst hochgestochenen Art der
Formulierung abhängen, sondern auch durch leicht
verständliche Erklärungen für jedermann
Wissenschaftliches vermittelt werden kann.
Kandel erläutert neben der allgemeinen Bedeutung einer
Störung des Gehirns für die menschliche Natur auch
speziell die Krankheitsbilder des autistischen Formenkreises, der
Depression, der bipolaren Störung und der Schizophrenie.
Weiters kommen den Themen Gedächtnis und Demenz, Parkinson-
und Huntington-Krankheit, Angst, posttraumatischer Stress,
Suchterkrankung und Geschlechtsidentität Beachtung zu.
Abschließend beschäftigt sich Eric Kandel mit dem
Bewusstsein an sich und all den Fakten, Geheimnissen und Mythen, die es
bereithält. Das Faszinierende ist, dass all diese Themen aus
einem Blickwinkel beleuchtet werden, der nicht so oft eingenommen wird.
Obwohl jeder von uns jeden Tag ganz unbewusst und automatisch denkt,
sind einem kaum die ungeheure Leistungskraft des Gehirns und die
Komplexität der Abläufe bewusst. "Was ist der
Mensch?" regt dazu an, sich die Vorgänge des Gehirns bewusst
zu machen und seine enorme Leistungskraft zu würdigen.
Die Kompetenz des Autors macht sich auch darin bemerkbar, dass er
verschiedenen Konzepten Platz einräumt und nicht eine Theorie
als absolut anpreist. Unterstützt werden die
Erläuterungen durch eine Vielzahl an Grafiken. Kandel
verknüpft geschickt geschichtliches Wissen mit den
Wissenschaften der Neurologie, Psychiatrie, Psychologie, Medizin,
Genetik, Biologie, Philosophie und vielen mehr - allein das
verdeutlicht schon, wie vielschichtig das Gehirn, seine Funktion und
auch seine Störungen sind. Ein Beispiel: Im Kapitel
über die Schizophrenie
findet sich nicht nur eine allgemeine
Charakterisierung der Krankheit anhand ihrer Hauptsymptome. Es wird
erläutert, was der Status Quo des Wissens ist, welche
Fehlfunktionen im Gehirn für die Störung
verantwortlich sind, welche Therapieverfahren derzeit zur
Verfügung stehen, und nicht zuletzt werden Erfahrungen von
Betroffenen selbst beschrieben.
Man kann getrost sagen, dass sich der Nobelpreisträger rundum
sehr intensiv mit dem Gehirn und seinen Störfunktionen
beschäftigt und bei diesem ausufernden und komplexen Thema
dennoch nicht darauf vergisst, dem Leser die Inhalte
verständlich und spannend darzulegen. Die genannten
Krankheitsbilder und Störungen des Gehirns sind jedem
geläufig, zumindest im Besitz eines Halbwissens glauben sich
die meisten. Der Autor bietet jedoch einen Blick "hinter die Kulissen".
Es ist dem Leser möglich, die Struktur hinter den
Störungen zu erkennen, die Hintergründe der sich
äußernden Symptome zu erschließen und die
Krankheiten besser zu verstehen. Für Betroffene und
Angehörige könnten diese Informationen sehr hilfreich
sein, um sich besser mit den Störungen auseinandersetzen zu
können. Auch allgemein Interessierte finden in "Was ist der
Mensch?" ein Füllhorn an wissenschaftlich fundierten, spannend
aufbereiteten und zum Teil sehr detaillierten Ausführungen.
Besonders relevant kann das Buch auch für professionelle
Helfer sein, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten. Nicht
zuletzt, weil jeder von uns betroffen sein kann, zumindest aber jeder
ein Gehirn hat, über das es sich mehr herauszufinden lohnt,
kann dieses Buch absolut empfohlen werden! Und dennoch erhebt der Autor
keinen Anspruch auf Allwissen, gibt es doch immer noch
unzählige Geheimnisse, die das
Gehirn für uns
bereithält.
(Alexandra Gölly-Liebich; 11/2018)
Eric
Kandel: "Was ist der Mensch?
Störungen des Gehirns und was sie über die
menschliche Natur verraten"
(Originaltitel "The Disordered Mind. What Unusual Brains Tell Us About
Ourselves")
Übersetzt von Sebastian Vogel.
Siedler, 2018. 366 Seiten.
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Eric
Kandel, geboren 1929 in
Wien,
ist einer der bedeutendsten
Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts. 1939 emigrierte er mit
seiner jüdischen Familie in die USA. Kandel studierte
Geschichte und Literatur an der Harvard University und danach Medizin
an der New York University. Seit 1974 ist er Professor an der Columbia
University in New York. Für seine Forschung erhielt Eric
Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Unter dem
Titel "Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer
neuen Wissenschaft des Geistes" erschien Kandels Lebens- und
Forschungsgeschichte, die zwei Jahre später unter demselben
Titel auch verfilmt wurde. Für "Das Zeitalter der Erkenntnis"
kehrte der begeisterte Kunstsammler und weltbekannte
Naturwissenschaftler zurück in die Stadt seiner Kindheit.
Weitere Bücher des Autors:
"Das Zeitalter der Erkenntnis" zur
Rezension ...
"Auf
der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen
Wissenschaft des Geistes"
Wir sind das, woran wir uns erinnern.
Eric Kandel, der bedeutendste Gedächtnisforscher unserer Zeit,
erinnert sich an sein Leben. Als Kind floh er 1939 vor den Nazis aus
Wien nach New York. Mit großem erzählerischen
Schwung schildert Kandel, wie ihn seine persönliche Suche nach
der Erinnerung dazu brachte, sich erst der Geschichte, dann der
Psychoanalyse und schließlich der neurobiologischen Forschung
zuzuwenden, um eine neue Wissenschaft des menschlichen Denkens und
Fühlens zu begründen.
Zwei Tage nach Eric Kandels neuntem Geburtstag bricht die Gewalt in
sein Leben ein. Die Wohnung der Kandels wird von den Nazis
geplündert, die jüdische Familie muss fliehen.
Gemeinsam mit seinem Bruder trifft er 1939 in New York ein, erst Monate
später gelingt es den Eltern nachzukommen.
Aus dem Versuch zu begreifen, was ihm geschehen ist, erwächst
bei Kandel eine Faszination für die Vergangenheit,
für das Erinnern und Vergessen. Das führt ihn
zunächst zum Studium der Geschichte
und Literatur. Doch das
Wien, das ihn nicht loslässt, die Stadt Schnitzlers und
Musils, ist auch die Sigmund Freuds. Bei seiner Auseinandersetzung mit
der Psychoanalyse stößt Kandel jedoch rasch an die
Grenzen dieses Fachs.
Er wendet sich daher der biologischen Forschung zu. Es geht ihm um die
wissenschaftliche Erklärung dessen, was Freud über
psychische Prozesse, das Bewusste und das Unbewusste gesagt hat.
Indem
Kandel sein Leben Revue passieren lässt und seine Entwicklung
als Forscher erzählt, beschreibt er, wie sich die moderne,
neurobiologisch fundierte Wissenschaft des menschlichen Geistes
entwickelt hat. Eine Autobiographie auf höchstem literarischem
Niveau, geschrieben von einem analytischen Meisterdenker und getragen
von großer politischer und menschlicher Weitsicht.
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