Gerhard Jäger: "All die Nacht über uns"
Unliebsame
Grenzüberschreitungen
Heutzutage bekommt man viel über Flüchtlinge und Migranten zu lesen. Nicht nur in Zeitungen, auch Romane beschäftigen sich mit der Thematik, ob sie nun im bessern Fall interessante, sonst weniger beachtete Aspekte herausarbeiten oder sich mit der Mode gehend höheres Wohlwollen, eventuell auch Literaturpreise zu sichern suchen. Gerhard Jägers Roman "All die Nacht über uns" greift ebenfalls das Thema auf und beweist, dass Flüchtlinge nicht nur positive Auswirkungen haben.
Erzählt wird in Präsens und dritter Person aus der Perspektive eines Grenzsoldaten, der einen Grenzzaun bewachen und vor dessen Überwindung durch Flüchtlinge, jener hilfsbedürftigsten Art Emigranten, bewahren soll. Allein auf seinem frisch errichteten Wachturm mit behelfsmäßigem Blechdach, bei starkem Wind und teils strömendem Regen (der übliche Zweite fehlt nämlich, da die Kaserne gerade von einer Grippewelle überflutet wird) sitzt er seine zwölf Nachtstunden ab, vom Autor penibel auf je zwanzig Seiten verteilt. Konsequent ist der Autor auch beim Nichtbenennen des Mannes, der die ganze Zeit über einfach der Soldat bleibt. Ebensowenig wird verraten, um welche Länder und welche Grenze es sich handelt, und auch nicht, was die Flüchtlinge denn in die Flucht geschlagen. Allenfalls kann man den Anspielungen entnehmen, dass sie vermutlich aus muslimischen Ländern stammen. Hingegen erfahren wir einiges aus dem Privatleben des Soldaten, denn es geht ihm während seiner Nachtwache dies und jenes, mit seiner Aufgabe und mehr noch mit seinem persönlichen Leben Zusammenhängendes durch den Kopf. Von einem inneren Monolog oder sonstiger stimmiger Nachbildung psychischer Prozesse kann man allerdings nicht sprechen, es handelt sich dabei um einfach nacherzählte Erinnerungen (wofür in seiner Lage ja genug Zeit vorhanden), an seine bisherigen Begegnungen mit Flüchtlingen (der nächste Ort zur Kaserne ist nicht nur sein Wohnort, es befand sich dort auch bis vor kurzem ein zum Flüchtlingsheim umfunktioniertes Hotel), hauptsächlich an seine familiären Verhältnisse, seine gescheiterte Beziehung und den tragischen Tod seines kleinen Sohnes. Außerdem, so will es das Thema, liest der offenbar mindestens Mittzwanzigjährige (eher Ältere) in dieser Nacht mit Taschenlampe erstmals in dem ihm von dieser zugesteckten Tagebuch seiner Großmutter, das sie als vierzehnjähriges Mädchen 1945 auf einem Flüchtlingstreck von ihrer ostdeutschen Heimat in den Westen geschrieben hat. Schließlich, schon gegen Morgen, münden all diese Faktoren in einen kühnen Entschluss des Mannes und werden ganz am Ende in einer dramatischen Szene gleich auf die Probe gestellt.
Soweit das
Konzept, allein an der Ausführung hapert es gewaltig. So gerät
besagter Entschluss unfreiwillig beinahe zur Karikatur von
Friedensbewegtheit, gleichsam einem pazifistischen Knallfrosch, und
auch sonst werden etliche Glaubwürdigkeitsgrenzen
überschritten (im Märchengenre hätte sich
der Autor möglicherweise wohler gefühlt). Wenig
glaubwürdig sind des Soldaten Gemütsschwankungen und
seine Handlungen, dass er, Berufsoldat und weder im
Übermaß ängstlicher
noch hasserfüllter Mensch, in die stockdunkle Nacht
hinausfeuert,
Funksprüche von Kameraden, weil
ihm gerade nicht
danach ist, einfach ignoriert oder als jemand, der, was man
von ihm erfährt, weder familiär noch
persönlich Grund gegen Flüchtlinge
aufzutreten hat, sich plötzlich mitten in einer Menschenmenge,
die auf ein Vergewaltigungsgerücht hin erbittert gegen die von
der Exekutive geschützten Eindringlinge drängt,
wiederfindet. Leider macht der Autor auch sonst aus letzterem Motiv zu
wenig (zumindest eine kurze Zusammenfassung von "Masse
und
Macht" hätte er sich durchlesen
können), und eine andere Romanidee, das Versagen des
mit Flüchtlingen ins Gespräch kommen Wollenden, dann
aber grußlos Vorbeigehenden, hätte es ebenso
verdient gehabt, genauer ausgeführt zu werden. Auch der
verwendeten Sprache merkt man die Konstruiertheit an: "springt
erregt
auf", "ein Stöhnen dringt
aus seiner Brust", "seine
Schultern
beginnen zu zucken" (der
Autor
arbeitet mit Versatzstücken und scheint zu hoffen,
dass diese vom Leser zu tiefen Gefühlen
ergänzt werden, andererseits droht ein ominöser, nie näher
spezifizierter Schießbefehl), "das kalte Metall des Gewehrs" und
dergleichen
altbekannte Formulierungen muss man allzu oft mitlesen, und "die
Minuten
werden zu einer Unendlichkeit", zumal der Autor in seiner
Beschreibungs- und Differenzierungsfaulheit den Roman mit Redundanz und
Wiederholung streckt.
Echt und
damit auch die besten Seiten von "All die Nacht über uns" sind
ihre von der Malerin Dietlinde Bonnlander zur Verfügung
gestellten Fluchttagebucheintragungen des Jahres 1945.
Was
immer das Hauptanliegen des
Autors war, ob er für die sehr spezielle, organisierte
Masseneinwanderung unserer Tage werben wollte oder es ihm vordringlich
darum ging, dem Leser mehr Mitmenschlichkeit, ebenso also
gegenüber Fremden und sich illegal im Land Aufhaltenden,
nahezulegen, oder ob er in erster Linie von den Nöten eines
einsamen Grenzsoldaten, der besser einen anderen Beruf ergriffen
hätte, erzählen wollte, mit "All die Nacht
über uns" wird er ihm jedenfalls nicht gerecht, denn der ist
schlichtweg
keine gute Literatur.
Der Zweck fordert Mittel.
Im übrigen wird dem Autor dringend empfohlen, bei kommenden
Erzählungen mehr auf persönliches Erleben
zurückzugreifen.
(fritz; 10/2018)
Gerhard
Jäger: "All die Nacht über uns"
Picus, 2018. 238 Seiten.
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Gerhard
Jäger arbeitete als Behindertenbetreuer, Lehrer und Vertreter
im Außendienst. Er absolvierte eine Journalistenausbildung
und arbeitete als freier Journalist und als Redakteur. Im Jahr 1994
erhielt er ein Nachwuchsstipendium des Bundesministeriums für
Unterricht und Kunst, 1996 den "Vorarlberger Literaturpreis
für einen bisher unveröffentlichten Roman". Er lebte
mit seiner Familie in Imst/Tirol.
Gerhard Jäger starb im November 2018 in Imst an den Folgen einer
Gehirnblutung.
Sein Debütroman "Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der
Tod" war ein großer Erfolg:
"Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod"
Ein sprachgewaltiger Roman über eine unerfüllte
Liebe, einen ungeklärten Mord und eine spannende Spurensuche.
Im Herbst 1950 kommt der junge Historiker Max Schreiber in ein Tiroler
Bergdorf, um ein altes Geheimnis zu erforschen. Inmitten der Bergwelt
und einer misstrauischen Dorfgemeinschaft fühlt er sich
zunehmend isoliert und verliert sich in der Liebe zu einer Frau, um die
jedoch auch ein Anderer wirbt. Als ein Bauer
unter ungeklärten
Umständen stirbt und der Winter
mit tödlichen Lawinen
über das Dorf hereinbricht, spitzt sich die Situation
dramatisch zu. Schreiber gerät unter Mordverdacht und
verschwindet. Fünfzig Jahre später begibt sich ein
alter Mann auf Spurensuche in die Vergangenheit. (Heyne)
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