Willem Frederik Hermans: "Unter Professoren"
Polemisch,
kompromisslos und provokant: ein romantischer Rationalist in (s)einem
sadistischen Universum der chaotischen Wirklichkeiten
Laut Klappentext von "Unter Professoren" erhält jeder, der in
den Niederlanden promoviert, diesen Klassiker geschenkt - ein
Paradebeispiel für das gern zur Schau gestellte
niederländische Talent zur Selbstironie, wenn auch mit ebenso
aussagekräftiger Verspätung.
Rufus Dingelam, Chemieprofessor in seinen Fünfzigern, der
niemals lacht, mit seinem beruflichen Dasein hadert und in seiner Ehe,
ebenso wie seine Frau, bemüht dahinvegetiert, erhält
eines Morgens im Wochenendhäuschen ein Telegramm: Er hat
für eine eigentlich bereits zwanzig Jahre alte
Forschungsarbeit den Nobelpreis zuerkannt bekommen! Seine Frau
Gré, eine miserable Köchin übrigens (wer
würde schon einen tiefgefrorenen Rehrücken
stundenlang in Essig und Wasser kochen?), findet das gar nicht so
erhebend, deckt das Preisgeld doch gerade einmal die
Lebenshaltungskosten weniger Jahre.
"Unter Professoren" ist Hermans' wonnige Abrechnung mit seiner Zeit an
der Universität von Groningen. In dialogreichen Szenen mit
wechselnden Besetzungen werden Meinungen, Lebensumstände und
Zeitgeschehen, man befindet sich in den 1970er-Jahren, vor dem
Hintergrund einer für alle völlig
überraschenden Nobelpreiszuerkennung abgebildet. Es kommen
detailfreudig dargestellte absonderliche Professoren ebenso zu Wort wie
deren Ehefrauen und fanatisierte wie auch einsichtige Studenten, und
man erhält Einblicke in einige typische Paarbeziehungen wie
überhaupt in die Befindlichkeiten der dortigen
Akademikerklasse jener Jahre, die nicht nur allgemein
gutgeheißene Veränderungen ("Demokratisierung",
"Berufsarbeitslose") mit sich brachten.
Postenschacher und Sticheleien zwischen Protestanten und Katholiken
sind weiterhin ganz selbstverständlich präsent wie
traditionelle Rollenbilder, Vorurteile und Generationenkonflikte. Auch
Bausünden jener Jahre werden angeprangert;
schließlich wollte man um jeden Preis mit allermodernster
Architektur auftrumpfen.
Eine zusätzliche interessante Perspektive ergibt sich aus den
zwischendurch immer wieder eingefügten Tagebucheintragungen
des jüdischen Psychiaters Eddy Barend, der sich Dingelam seit
einem Vorfall während der Besatzungszeit schicksalhaft
verbunden fühlt und die Niederländer samt ihren
bisweilen seltsamen Umgang mit der jüngeren Vergangenheit von
seinem höchstpersönlichen Standpunkt aus beschreibt,
wobei selbstverständlich auch seine beruflichen Erfahrungen
einfließen: Er kennt die geheimen Schattenseiten einiger
seiner Landsleute nur zu gut.
Der Roman fängt turbulente Tage und Nächte ein und
nimmt dabei gekonnt provinzielle Minderwertigkeitskomplexe und den
vermeintlichen Zwang zur Modernität aufs Korn, doch erscheinen
durchaus auch vernünftigere Protagonisten auf der
Bildfläche. Ein gewisser Hang zu opportunistischem Handeln ist
- allzu menschlich - allen gemein.
Gratulanten, Möchtegernschnorrer, Neider, skurrile Figuren
(z.B. der Kuratoriumspräsident Doktorandus Kaeckebeke, ein
nicht mehr praktizierender schlechter Zahnarzt, der intrigante
Wendehals Direktor Knellis Tamstra, der seltsame Künstler Poux
Partout, ...) - sie alle werden ausführlich beschrieben und
anhand ihrer Gedanken, Worte und Werke vorgeführt.
"Unter Professoren" ist nicht zuletzt auch aufgrund demaskierender
Szenen, die bisweilen an
Loriot'sche
Konzepte
denken lassen, sehr vergnüglich.
Als die Dingelams mit einem geschenkten Hahn am Sonntagabend aus dem
Wochenendhaus zurückkehren, erwarten sie bereits Schlagzeilen,
Gerüchte, neugierige Nachbarn und Kollegen. Die
Nobelpreis-Sensation wird in einem Sexclub gefeiert, weil die Dingelams
den spätnachts hereinschneienden Gästen
außer Tee nichts anzubieten haben und in der biederen Gegend
kein anderes Lokal mehr geöffnet ist.
In diesen Szenen bildet Hermans einmal mehr die berüchtigte
Sparsamkeit (oder auch den Geiz) seiner Landsleute ab, auch der nicht
selten verschämt-verlogene Umgang mit dem Thema
Sexualität wird vor dem Hintergrund, dass jene Substanz, die
Dingelam seinerzeit entdeckt hat, nicht nur als Weißmacher in
Waschmitteln, sondern auch, wie japanische Forscher herausgefunden
haben, als Potenzmittel Wirkung entfaltet, aufs Korn genommen.
Alsbald wollen sich viele Zeitgenossen mit dem bislang offenbar so
sträflich verkannten Genie schmücken oder den
frischgebackenen Nobelpreisträger, der sich gelegentlich
erotischen Tagträumen hingibt, für ihre Zwecke
instrumentalisieren, und rabiate Studenten haben unter medialem
Getöse deutscher Fernsehleute Dingelams
Universitätsabteilung besetzt, als er am Montagmorgen dort
eintrifft. Nachdem sogar seine Ehrung in der Aula ins Wasser
fällt, wird es dem zu allem Überfluss auch noch
verleumdeten Professor, der grundsätzlich nur in Ruhe
weiterarbeiten möchte, zu bunt, und er unternimmt mit
Gré eine spontane Reise nach Monte-Carlo, während
sich in Groningen allem Anschein nach die Wogen unter ungewissen
Zukunftsaussichten langsam glätten ...
Willem Frederik Hermans zählt zu den berühmtesten
niederländischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts:
Hermans, Harry
Mulisch und Gerard Kornelis van het Reve
(14.12.1923-8.4.2006) werden als "de Grote Drie" der
niederländischen Nachkriegsliteratur bezeichnet.
Während Mulischs Werke auch im deutschsprachigen Raum nach wie
vor eine gewisse Bekanntheit genießen, fristen jene der
anderen beiden Größen vergleichsweise ein
Schattendasein.
In seinem am 5. Mai 1995 in der "Zeit" unter dem Titel "Er hatte immer
recht" erschienenen Nachruf auf Hermans schrieb Cees Nooteboom: "(...)
Die
niederländische Literatur des 20. Jahrhunderts
wäre ohne ihn undenkbar. Im Ausland ist er jedoch,
völlig zu Unrecht, mehr oder weniger unbekannt geblieben, ein
Umstand, zu dem er selbst durch die Geradlinigkeit seines Charakters
beigetragen hat. (...) Es wäre an der Zeit, dass die deutsche
Verlagswelt ihren bedauernswerten Mangel an Interesse wiedergutmachen
würde."
Doch das diplomatisch formulierte Begehren verhallte weitgehend
ungehört, denn auch am Ende des Jahres 2018 ist festzuhalten,
dass der Großteil des umfangreichen OEuvres leider noch immer
nicht in deutschen Übersetzungen vorliegt!
Hermans, der Mann mit dem auf vielen Fotografien auffallend skeptischen
Blick, wurde am 1. September 1921 in Amsterdam geboren. Er studierte
ebendort Physische Geografie, promovierte cum laude anno 1955 auf
diesem Gebiet, betätigte sich jedoch auch bereits
während des Zweiten Weltkriegs schriftstellerisch und war von
1953 bis 1973 als Universitätsdozent in Groningen aktiv, bevor
er sich gänzlich dem Schreiben widmete.
Sein Debütroman
"Conserve" erschien im Jahr 1947, als ideale Einstiegslektüre
gilt "Nooit meer slapen" ("Nie mehr schlafen") aus dem Jahr 1966. Darin
wird eine dramatische Abenteuergeschichte aus dem Leben des
fünfundzwanzigjährigen ehrgeizigen
niederländischen Geologiestudenten Alfred Issendorf
erzählt, den Forschungen für seine
Studienabschlussarbeit mit seinem besten Freund Arne und zwei
unverwüstlich-urwüchsigen Norwegern auf Irrwegen in
schlammige, mückenverseuchte norwegische Einöden
verschlagen, um dort die Hypothese seines Doktorvaters Sibbelee zu
bestätigen - oder eben nicht.
Besonders gelungen sind beispielsweise die in
einem
norwegischen Restaurant spielenden Szenen, Stichwort
"Gravlaks", die Zeugnis ablegen von Hermans' nüchterner
Beobachtungsgabe und sein aufmerksames Bearbeiten von Klischees
demonstrieren.
Der Roman bildet ein Stück des leidvollen Wegs der Reifung zum
Mann ab, den Größenwahn, Talent und tief empfundene
Unzulänglichkeiten ebenso prägen wie
Sehnsüchte, Verluste und Misserfolge. Doch auch jene Motive,
die später in "Unter Professoren" eingehender abgehandelt
werden, klingen bereits deutlich an, z.B. undurchsichtige Intrigen
zwischen Universitätsprofessoren.
Den Durchbruch als Schriftsteller brachte Willem Frederik Hermans anno
1958 sein Roman "De donkere kamer van Damokles" ("Die Dunkelkammer des
Damokles", erst im Jahr 2001 in deutscher Übersetzung mit
einem Nachwort des bei deutschsprachigen Lesern überaus
beliebten Autors und Literaturvermittlers Cees
Nooteboom erschienen), der inzwischen in den Niederlanden als
Klassiker gilt und kunstvoll das Doppelgängermotiv variiert.
Willem Frederik Hermans war ab 1950 mit der Surinamerin Emmy Meurs
(gestorben 2008) verheiratet, 1955 bekam das Paar einen Sohn namens
Ruprecht.
Im Jahr 1973 übersiedelten Hermans und seine Frau nach Paris,
dafür ausschlaggebend waren gröbere
Zerwürfnisse mit Landsleuten, vor allem Intrigen an der
Universität von Groningen, die - wie eingangs bereits
erwähnt - auch mittelbar in den anno 1975 publizierten
bissigen Nachschlüsselroman "Onder professoren" ("Unter
Professoren") Eingang fanden.
Hermans verfasste unter dem Pseudonym Age Bijkaart im
selbstgewählten Pariser Exil kritische Kolumnen für
die niederländischen Zeitungen "NRC Handelsblad", "Elsevier"
und "Het Parool", in denen er aus der Ferne gegen Personen und
Zustände in den Niederlanden wetterte, und die - wenig
erstaunlich - in den Niederlanden kaum jemals Wohlgefallen ernteten.
Der streitlustige, unbequeme Intellektuelle Hermans galt
anscheinend manchen Zeitgenossen als "Quälgeist" und
"Nestbeschmutzer", war Sprachpedant und Freigeist, der wohl
Feindschaften zu pflegen verstand.
Im Verlag "De bezige bij" erschien im Jahr 1978 ein Sammelband seiner
Pariser Kolumnen unter dem Titel "Boze Brieven van Bijkaart".
Der ebenso vielseitige wie fleißige Schriftsteller Hermans
veröffentlichte neben Romanen auch Gedichte, Dramen,
Erzählungen und Essays. Übrigens lehnte er
Literaturpreise prinzipiell ab, eine von zwei Ausnahmen machte er im
Jahr 1977, als er aus den Händen des Königs der
Belgier, Baudouin, den "Prijs der Nederlandse Lettere" annahm. Diesen
Preis haben übrigens u.A. auch Harry Mulisch (1995), Gerard
Reve (2001) und Cees Nooteboom (2009) erhalten.
Hermans wurden Ehrendoktorate der Universitäten von
Lüttich (1990) und Pretoria (1993) verliehen. Sein Besuch in
Südafrika sorgte wegen des verhängten kulturellen
Boykotts des südafrikanischen Apartheidregimes in den
Niederlanden für Unmut.
Nachdem ein geistig Verwirrter im Dezember 1988 einen Anschlag auf
Hermans und seine Frau verübt hatte, beschloss das Ehepaar,
Paris zu verlassen. Man übersiedelte nach Brüssel, wo
sich der gesundheitlich angeschlagene Hermans sehr wohl fühlte
und seine letzten Lebensjahre verbrachte.
Anno 1993 war sein Büchlein "In de mist van het schimmenrijk"
(später umfangreicher als "Madelon in de mist van het
schimmenrijk" erschienen) das "Boekenweekgeschenk"
("Bücherwochegeschenk") in den Niederlanden.
Zum Sterben kam Hermans schlussendlich wieder in seine einstige Heimat:
Kurz vor seinem Tod, der ihn am 27. April 1995 im "Utrechtse Academisch
Ziekenhuis" ereilte, kehrte er in einem Rettungswagen in die
Niederlande zurück. Sein Leichnam wurde eingeäschert.
Postum erschien im Jahr 1995 seine unvollendete Novelle "Ruisend gruis"
(bedeutet in etwa "Stiebender Staub").
Die eher dunkel getönte Weltauffassung ("Het sadistische
universum", Titel eines Werks Hermans' aus dem Jahr 1964) des
Schriftstellers färbte naturgemäß auch sein
Werk bisweilen typisch schwarzhumorig und nachtschattig, doch die
Helligkeit seines Intellekts verhinderte Nebel, Dämmerung und
Düsternis. Interessantes Detail am Rande: Der Schriftsteller
pflegte seine Werke für Neuauflagen stellenweise umzuschreiben
- Perfektionist durch und durch, allen chaotischen Wirklichkeiten zum
Trotz.
Der berühmte Multatuli war in gewisser Weise Vorbild
für Hermans: "Vielhabicherduldet" bedeutet das aus dem
Lateinischen stammende Pseudonym von Eduard Douwes Dekker (2.3.1820,
Amsterdam - 19.2.1887, Ingelheim), der jahrelang als hoher
Kolonialbeamter in Niederländisch-Ostindien vergeblich die
dortigen Missstände (Ausbeutung der Einheimischen, Korruption,
...) gegenüber seinen Vorgesetzten anprangerte. Nach seiner
Rückkehr verfasste er in bitterer Armut im Jahr 1859 in
Brüssel innerhalb weniger Wochen den autobiografischen Roman
"Max Havelaar, of De koffieveilingen der Nederlandsche
Handelmaatschappy" (1860 erschienen, Titel der deutschsprachigen
Übersetzung: "Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerungen der
Niederländischen Handelsgesellschaft").
Das Buch erregte schlagartig beträchtliches Aufsehen, seitens
der Herrschenden wurde versucht, Multatuli als Querulanten zu
brandmarken und bloßzustellen, doch begründete der
Enthüllungsroman den Ruhm des durchaus nicht engelsgleichen
egozentrischen Schriftstellers, Spielsüchtigen und
Freimaurers, in dessen Geburtshaus sich heute ein ihm gewidmetes Museum
befindet.
Auf der Netzseite dieses Museums ist u.A. zu lesen: "Mit
Douwes Dekker - aber auch hinter seinem Rücken - wurden
Verhandlungen geführt mit dem Ziel, ihm eine angemessene
Anstellung in Westindien zu verschaffen, allerdings unter der
Bedingung, dass er auf die Publikation verzichten würde.
Douwes Dekker weigerte sich jedoch nach Surinam oder auf die
niederländischen Antillen abgeschoben zu werden und
beauftragte Van Lennep damit, das Buch herausgeben zu lassen."
Hermans unterwarf sich keiner wie auch immer gearteten freiwilligen
Selbstzensur, um sich irgendwie irgendwem anzubiedern, er prangerte
wortgewaltig Missstände an, als derlei noch nicht von
Journalisten als deren vermeintlich ureigenes Monopol vereinnahmt war.
All das verleiht seinen Texten eine ursprüngliche Frische,
eine authentische Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit, die man vor allem
in der heutigen, nicht selten auf Preisverleihungen und Verkaufszahlen
schielenden Belletristik meist vergeblich sucht.
Und wenn gegenwärtig so häufig von irgendeiner gerade
modisch-opportunen "Korrektheit", die nicht selten als angeblich
gesellschaftlich akkordierter Maulkorb ausgelegt wird, die Rede ist,
sollte man bedenken, dass allzu gefällige,
individualitätsbereinigte Texte weder von Belang noch von
Dauer oder gar literarischer Strahlkraft sind. Die
selbstbestätigende und selbstgerechte Wohlfühlzone,
die von marktbeherrschenden Medien als irdisches Paradies verkauft
wird, hat mit erlebten Alltagsrealitäten - wenn
überhaupt - nur mehr am Rand zu tun, es handelt sich um
künstliche Parallelwelten, die nicht von eigenständig
denkenden Menschen bevölkert werden, wo vielmehr bequeme
Ansichten und oberflächliche Gefühlsregungen
glorifiziert, vervielfältigt und in trauter Eintracht
wiedergekäut werden. Entsprechend kraftlos wirken Texte, die
unter derartigen Bedingungen entstanden sind.
Umso größer war und ist die Sehnsucht
selbstdenkender Leser nach echten höchstpersönlichen
Meinungen, nach Überraschungen, Ecken, Kanten und
Widersprüchen, nach Lektüre, die sich wohltuend vom
geschmacksneutralen zeitgeistigen Einheitsbrei unterscheidet.
Willem Frederik Hermans' Bücher präsentieren sich
weder weichgespült, noch aalglatt oder gar
oberflächlich, sie verschleiern nichts und bilden gekonnt mit
den zauberhaften Mitteln des gebildeten Literaten Lebenswirklichkeiten
ab und erweisen sich dabei als ebenso lesefreundlich wie kurzweilig.
(kre; 11/2018)
Willem
Frederik Hermans: "Unter Professoren"
(Originaltitel "Onder professoren")
Aus dem Niederländischen von Barbara Heller, Helga van
Beuningen.
Aufbau, 2016. 512 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors:
"Nie mehr schlafen"
Der junge Niederländer Alfred Issendorff strebt nach Ruhm und
akademischem Lorbeer: Er will in die Geschichte seiner Wissenschaft
eingehen. Das könnte gelingen, wenn er es fertigbringt, eine
These seines Professors zu beweisen. Der vermutet nämlich,
dass bestimmte Seen in der Finnmark durch Einschläge von Meteoriten
entstanden sind. Issendorf reist nach Tromsø und
schließt sich einer geologischen Expedition an, die ins
nördliche Norwegen unterwegs ist.
Die Erkundungen dort finden unter ungeheuerlichen Strapazen statt, in
einer Gegend, in der kaum jemand vorher gewesen ist. Allen vier
Beteiligten wird das Äußerste abverlangt - und
Issendorf beschwört durch seine Leichtfertigkeit die
Katastrophe herauf. Orientierungslos irrt er tagelang allein umher. Als
er in die Zivilisation zurückfindet, ist er zwar Zeuge eines
Lichtphänomens geworden, doch muss er mit dem Tod eines
Freundes fertig werden.
Voller Sarkasmus und dabei unglaublich fesselnd erzählt Willem
Frederik Hermans von Grenzsituationen und kläglichem
Scheitern. Und nicht von ungefähr beschleicht den Leser
mitunter das Gefühl, auch er könnte angesprochen
sein. (Aufbau)
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"Das heile Haus" zur Rezension ...
"Die Dunkelkammer des
Damokles"
In diesem Meisterwerk erzählt Willem Frederik Hermans die
furiose Geschichte eines Mannes, der sich als Held wähnt und
dabei in Schuld verstrickt: Henri Osewoudt, dessen Mutter in einem
Anflug von Wahnsinn den eigenen Mann erstochen hat, führt den
Tabakwarenladen seines Vaters weiter. Eines Tages betritt der Offizier
Dorbeck das Geschäft und gewinnt ihn für den
niederländischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung - bis
der geheimnisumwitterte Auftraggeber plötzlich verschwindet
und sich Osewoudt nach der Befreiung vor Gericht für seine
Taten verantworten soll. (Aufbau)
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Weitere
Buchtipps:
Gerard Reve: "Die Abende"
Reve schildert in diesem (erstmals anno 1947 als "De Avonden" unter
Pseudonym "Simon vat het Reve") erschienenen Buch die Tage zwischen
Weihnachten und Neujahr aus der Sicht des jungen Frits van Egters.
Tristesse und Witz, Respektlosigkeit und Mitleid, Aufbegehren und
Duldung, Einsamkeit und menschliche Wärme werden so kunstvoll
beiläufig zusammengeführt, dass vor dem Hintergrund
desillusionierter Hoffnungen das Leben als Verheißung dennoch
nirgends in Frage gestellt wird. (Merlin)
In den Niederlanden sorgte Reves Nachkriegsroman, der mit "Het
was nog donker, toen in de vroege morgen van de
tweeëntwintigste december 1946 in onze stad, op de eerste
verdieping van het huis Schilderskade 66, de held van deze
geschiedenis, Frits van Egters, ontwaakte." beginnt, damals
für einen Skandal und wurde von Kritikern als nihilistisch und
unmoralisch bezeichnet. Heute gilt er freilich längst als
Klassiker.
Gerard Reve war einer der ersten Prominenten, die sich in den
Niederlanden offen zu ihrer Homosexualität
bekannten. (Anm. d.
Rez.)
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Multatuli: "Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerungen der
Niederländischen Handelsgesellschaft"
Der Roman handelt von einem Amsterdamer Kaufmann namens Droogstoppel,
der von der Kaffeebörse lebt und genau so dröge ist,
wie sein Name verheißt. In das saturierte Leben des
philiströsen Droogstoppel dringt ein ehemaliger, jetzt
mittelloser Bekannter ein, der um Beihilfe zur
Veröffentlichung eines Manuskripts bittet. Dieses Manuskript,
das seine eigene Entstehungsgeschichte enthält, bildet den
größten und entscheidenden Teil des Buchs; es
handelt, weitgehend autobiografisch, von der Karriere des
Kolonialbeamten Max Havelaar auf
Java
in
Niederländisch-Indien. Diese endet, als er schwere
Verfehlungen seiner Vorgesetzten aufdeckt und letztlich das gesamte
Kolonialsystem in Frage stellt.
Komische Effekte werden durch eingeschaltete Bemerkungen Droogstoppels
erzielt, mit denen der Autor die ablehnende Reaktion des
niederländischen Bürgertums auf seine
Enthüllungen vorwegnimmt und karikiert. (e-artnow)
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Leseprobe
aus
dem Roman "Nie mehr schlafen":
(...) Es ist ein großes, vornehmes Restaurant. Gewesen. Jetzt
stehen dort rosa Plastikstühle an Tischen ohne Tischdecken.
Die Wände sind mit pastellfarbenen Platten, Teakholzpaneelen
und löchrigem Resopal verkleidet.
Kellner gibt es nicht, nur Mädchen, die die schmutzigen Teller
abräumen.
Hintergrundmusik: Skating in Central Park von The Modern Jazz Quartet.
Um Tische und Stühle herum geleite ich Nummedal
fürsorglich zu einer langen Theke.
Zwei Tabletts aus Teakholz stelle ich nebeneinander auf die Rutschbahn
aus Metallstangen, die sich an der Theke entlangzieht. Nummedal steht
neben mir, der weiße Stock hängt an seinem Arm. Hin
und wieder pendelt mir der weiße Stock fast ins Gesicht. Mit
dem Arm, an dem der weiße Stock hängt, versucht
Nummedal das Personal hinter der Theke auf sich aufmerksam zu machen.
Eine ganze Schar frisch gewaschener blonder Mädchen mit
Häubchen aus grünem Leinen.
Nummedal und ich sind Teil einer Schlange hungriger Menschen, die alle
ein Teakholztablett weiterschieben, sobald sie wieder irgendwo einen
Teller von der Theke genommen haben. Nummedal ist jedoch so
beschäftigt, daß er manchmal vergißt,
nachzurücken. Hinter ihm bildet sich ein Stau. Nummedal
stößt dann und wann Laute aus. Froken!
Froken!
Kein einziges Froken reagiert. Die Frokens haben alle Hände
voll zu tun, neue Gerichte auf die Theke zu stellen. Froken
Horsd'oeuvre reagiert nicht, Froken Brot nicht, Suppenfroken nicht und
Fleischfroken nicht.
Was will Nummedal überhaupt?
Hier braucht man doch nach nichts zu fragen! Man kann sich nehmen, was
man haben möchte. Wenn er nicht genug sehen kann, um eine Wahl
zu treffen, kann er mir ja sagen, was er wünscht!
Mein armer kindischer Großvater, der viel Lärm um
nichts macht. Sein Name klingt ähnlich wie das
niederländische Wort niemendal. Ob er wohl das gleiche,
nämlich Null, Niemand bedeutet?
Sein Tablett schiebe ich mit meinem Stück für
Stück weiter. Wir sind schon bei der Abteilung Dessert
angelangt und haben uns noch nichts ausgesucht. Das heißt,
zurückgehen und aufs neue Schlange stehen, das Tablett wieder
an der ganzen Theke entlangschieben. Ich habe mich nicht getraut,
etwas
für mich zu nehmen, nicht einmal ein Glas, ein Messer, eine
Gabel und eine Papierserviette.
Schließlich bleibt Nummedal so störrisch stehen,
daß in der Schlange eine Lücke entsteht. Soll ich,
um etwas zu tun, ein Schälchen Ananas mit Schlagsahne nehmen?
Die Leute, die vor Nummedal an der Reihe waren, haben bereits an der
Kasse bezahlt. Ich vergewissere mich ängstlich, daß
die Hungrigen, die wir aufhalten, auch nicht unruhig werden. Keine
Wehklage erhebt sich, kein Seufzer ist zu hören. Harte
Wikinger!
Noble Rasse von Riesen, die keine Eile haben! Nummedal
stößt immer noch Laute aus.
Jetzt verstehe ich ein zweites Wort: Gravlaks!
Das Mädchen, das für Ananas mit Schlagsahne
zuständig ist, hat das Wort ebenfalls verstanden. Sie beugt
sich zu Nummedal vor, schüttelt den Kopf, richtet sich auf,
ruft es den Mädchen zu, an denen wir schon vorbeigekommen sind.
Das Wort ist auch auf der Kundenseite der Theke aufgeschnappt worden.
Alle Gäste suchen jetzt nach Gravlaks. Sie sind noch dabei,
Schälchen in die Hand zu nehmen, prüfend zu
betrachten, an ihnen zu schnuppern, als das Wort Gravlaks von
Häubchen zu Häubchen weitergegeben wieder beim
Schlagsahnefroken angelangt ist, nun begleitet von einer Verneinung.
Nummedal stößt Rufe aus, dankbar klingende, weil man
seine Frage verstanden hat, entschuldigende, weil er eine
unmögliche Bestellung aufgegeben hat.
- No Gravlaks in this place!
- I understand. It's not important.
- Entschuldigen Sie, daß ich englisch gesprochen habe. Kein
Gravlachs hier!
- Ich verstehe. Ich verstehe.
Schnell greife ich zu einem Teller Pudding und stelle ihn aufs
Tablett.
Kurz vor der Kasse sehe ich Becher mit heißem Kaffee.
Nummedal hat sein Tablett stehengelassen, er hat sich nur Kaffee
genommen und bezahlt alles, ohne auf das Wechselgeld zu achten.
Ein Mann tritt aus der Schlange auf mich zu. Sein Kopf ist eckig, die
Brillengläser sind kreisrund. Er zeigt auf die
zusammengerollte geologische Karte, die ich mir unter den Arm geklemmt
habe, lächelt und verbeugt sich kurz.
- I understand, you are a stranger here? Dies ist ein sehr schlechtes
Restaurant, wissen Sie, wo es keinen Gravlaks gibt. Nie findet ein
Fremder in Oslo das, was er sucht! Ich schäme mich
für meine Heimatstadt. Von London sind Sie bestimmt Besseres
gewohnt. Aber ich sehe, daß Sie eine Karte haben. Ist es ein
Stadtplan? Darf ich mal schauen? Während ich mit der linken
Hand das Tablett balanciere, nehme ich mit der rechten die Karte und
gebe sie dem Mann. Gleich muß er sich wieder ans Ende der
Schlange stellen, nur, weil er mir helfen wollte.
Er hat die Karte auseinandergerollt.
- Es gibt hier nur ein Restaurant, wo man Gravlaks bekommt. Ich zeige
es Ihnen.
- Ist das auf dieser Karte nicht zu schwierig?
Es liegt mir auf der Zunge, ihm noch zu sagen, daß es sich um
eine geologische Karte handelt. Was wird er denken, wenn er all das
Rot, Grün und Gelb sieht, während die Stadt selbst
nicht größer als eine durchgeschnittene Kartoffel
dargestellt ist?
Er will mit dem Zeigefinger suchen. Die Karte rollt sich zusammen, ich
will ihm helfen, das Tablett gerät ins Schwanken.
Es kippt nach seiner Seite. In einem Schwall ergießt sich der
Kaffee über ihn, der Pudding heftet sich in boshaften Klumpen
an seinen Anzug, Geschirr fällt zu Boden und zerbricht, das
Tablett selbst kann ich gerade noch festhalten. Der Mann hat die Arme
hochgestreckt, er hält die Karte in die Höhe. Ich
sehe mich um, wo Nummedal geblieben ist. Der sitzt einsam an einem
Tisch und rührt in seinem Kaffee.
- Alles in Ordnung! Nichts passiert! ruft der Mann, der mir helfen
wollte. Er schwenkt die Karte, sie ist trocken und
unbeschädigt.
Ich nehme ihm die Karte ab. Wir werden von zwei Frokens getrennt, die
ihm mit Schwamm und Handtuch zu Leibe rücken.
Nun eilen andere hilfsbereite Norweger herbei.
Einer hat mir einen Pudding besorgt, ein anderer Kaffee, ein dritter
bringt einen Salat,
in dem rosafarbener Fisch enthalten ist.
- Laks, Laks! ruft er rhythmisch, Laks, Laks! But no Gravlaks! Too
bad!!
Ich frage, was ich ihnen schuldig bin, schaue von einem zum andern,
bekomme keine Antwort. Ich versuche es erneut, stottere jedoch so,
daß sie noch mehr Mitleid mit mir bekommen. Kann
keine einzige Sprache, denken sie. Ist den ganzen Weg von
Gottweißwoher gekommen, um Gravlaks zu essen.
Insgeheim flehend, daß sie mir nicht folgen, drehe
ich ihnen den Rücken zu und gehe mit dem vollen Tablett zu dem
Tisch, an dem Nummedal sitzt. (...)