Christoph Hein: "Verwirrnis"
Eine
geheime Liebe
Friedeward Ringeling und Wolfgang Zernick sind die Protagonisten, die
im Mittelpunkt dieses beeindruckenden Romans stehen. Friedeward,
geboren genau sechs Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, ist Sohn
von Pius Ringeling, Veteran des Ersten Weltkriegs, eines sehr
gläubigen Lehrers, der es irgendwie schafft, sich
während des Krieges nicht von den Nationalsozialisten
vereinnahmen zu lassen. Aus diesem Grund darf er nach dem Krieg nicht
nur unterrichten, sondern wird nach Weiterbildungen auch Schuldirektor.
Ein rigoroser, kompromissloser Mann, überzeugter Monarchist,
der nicht nur die demokratische Verfassung der Republik verachtet,
sondern auch die folgenden Regimes der Nationalsozialisten und der
Kommunisten.
"Für Pius Ringeling war die körperliche
Züchtigung zwingender Bestandteil einer bürgerlichen,
die Heranwachsenden überhaupt erst zum Leben
befähigenden Pädagogik, ohne deren
Grundsätze weder ziviles Verhalten noch Ehrgeiz und
Leistungswille in die folgende Generation zu pflanzen und in ihr
nachhaltig zu verankern seien."
Während er die Tochter Magdalena mit einem "Klaps
auf den Hintern oder mit einer Kopfnuss" züchtigt,
ist das bevorzugte Mittel für die beiden Söhne eine
Riemenpeitsche, ein Siebenstriemer, ein kurzes Holzstück, an
dem sieben je achtzig Zentimeter lange Lederstreifen befestigt sind.
Nach der Züchtigung, wenn sich die beiden Jungen mit
schmerzverzerrtem Gesicht weinend ihrer Misere ergeben hatten, mussten
sie auf die Frage, wen diese Bestrafung nun am meisten geschmerzt habe,
sagen: "Dich, lieber Vater, dich."
In diesem Umfeld wächst der junge und schüchterne
Friedeward auf. Die Schwester flüchtet in die Ehe und der
ältere Bruder nach Amerika. Zumindest vermeintlich. So bleibt
Friedeward allein zurück und erntet dafür die volle
Aufmerksamkeit seiner Eltern. In der Schule lernt er Wolfgang kennen,
und zwischen den beiden überdurchschnittlich klugen Jungen
wächst eine tiefe Freundschaft heran, die bald von
Verliebtheit abgelöst wird. Wolfgangs Tante lässt
ihnen immer wieder gute Bücher zukommen, unter Anderem von
Thomas
Mann und Robert
Musil, die den beiden Jungen Halt geben. Beide
verstehen nur zu gut, dass sie nicht erwischt werden dürfen.
Sie fahren mit dem Rad in den Urlaub an die Ostsee, solange sie nicht
als Paar erwischt werden, ist ja alles unproblematisch. Dort halten sie
sich auch auf dem Nacktbadestrand auf, der eigentlich verboten ist,
werden erwischt und bestraft. Wenig später, im Haus der
Ringelings, sind die beiden etwas unvorsichtig und werden von Pius
Ringeling in mehr oder weniger eindeutiger Lage erwischt.
Während er Friedeward züchtigt und ihm so diese
"widernatürliche Perversion" austreiben will,
zwingt er Wolfgangs Vater letztendlich, den Sohn umgehend von der
Schule zu nehmen. So muss Wolfgang an einer anderen Schule die letzte
Klasse absolvieren.
Christoph Hein entwickelt seinen hervorragenden Roman stringent aus
dieser Konstellation. Dazu kommt Helga, Wolfgangs Jugendfreundin, "die
er
irgendwie auch lieb hat, allerdings nicht so wie Friedeward".
Was für Wolfgang Tarnung ist, ist für Friedeward
schmerzvoll. Christoph Hein vereint die beiden jungen Männer
in Leipzig, wo Wolfgang am Kirchenmusikalischen Institut studiert und
auf dem besten Weg zu einer großen Karriere ist, und
Friedeward Germanistik. Hier können sie sich entwickeln, auch
wenn es immer geheim und "hinter Gardinen" stattfinden muss. An der
Universität findet Friedeward in der Figur seines Professors
Hans Mayr "ein lebendiges philosophisches Denken, einen
wachen Verstand, der den Geist der Zeit zu erfassen suchte".
Sie lernen Jacqueline kennen, die, wie sich herausstellt, lesbisch ist
und eine ebenso geheime Beziehung mit einer Professorin
unterhält. Bald reift die Idee heran, dass Friedeward und
Jacqueline eine Scheinehe eingehen, die ihnen vor Eltern und
Gemeinschaft ein ruhiges Leben ermöglichen soll. Wolfgang
bleibt im Westen, wo die Homosexualität weiterhin verboten
bleibt, und so trennen sich dann doch die Wege, auch wenn sie
füreinander die große Liebe bleiben.
"Als er an einem Sonntagmorgen im August beim
Frühstück das Radio anstellte, wurde er von der
Nachricht überrascht, dass in Berlin eine Mauer
gebaut und die
Grenze zur Bundesrepublik von Armee und Polizei gesichert werde, ein
Überqueren der Grenze sei damit unmöglich, die
DDR-Bürger seien, wie der Westberliner RIAS meldete, nunmehr
Gefangene ihres Regimes. Die Meldung erschien ihm
unglaubwürdig, er stellte andere Sender ein, aber ausnahmslos
alle berichteten aufgeregt nur noch von diesem Ereignis. Mit seiner
Kaffeetasse in der Hand stellt er sich ans offene Fenster und schaute
auf die leere Straße, in der um diese Zeit noch kein Auto zu
sehen war, und dachte an Wolfgang, der nun endgültig
unerreichbar für ihn geworden war."
Dieser Roman von Christoph Hein liest sich wie ein kompromissloses,
fast störrisches und reduziertes Spätwerk. An der
Oberfläche nüchtern wie ein Bericht, brodelt es
darunter, weil man mit den Protagonisten mitleidet, mitfiebert und
merkt, wie geschickt Hein ein weiteres Panorama oder Sittenbild der DDR
und BRD zeichnet, das die Zeit von den Kriegsjahren bis nach der Wende
umfasst. Es ist ein Roman über eine Liebe,
die durch die
verklemmte, repressive Zeit nie wirklich blühen konnte. Ohne
Pathos, ohne jegliche Gefühlsduselei schafft Christoph Hein
einen wahrlich großen Roman, der äußerst
empfehlenswert ist.
(Roland Freisitzer; 08/2018)
Christoph
Hein: "Verwirrnis"
Suhrkamp, 2018. 304 Seiten.
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