Nino Haratischwili: "Die Katze und der General"
Schuld
und Sühne
Genau vier Jahre ist es her, dass Nino Haratischwilis monumentaler 1280
Seiten langer Roman "Das achte Leben (Für Brilka)" erschienen
ist. Ihr neuer Roman "Die Katze und der General" ist erstaunlicherweise
wieder ein sehr großflächiges, vielschichtiges Epos
geworden. Nach der Lektüre dieser beiden Romane
erhärtet sich der Verdacht, dass Haratischwili mit der
wirklich großen Form ihre Form gefunden hat. Die
erzählerische Breite, die Vielschichtigkeit, die sie sich
dabei zunutzemachen kann, ist genau das, was ihre Prosa braucht, um zu
blühen und den Leser gefesselt zu langen, bis tief in die
Nacht gehenden Lesungen zu zwingen.
Nino Haratischwili beginnt mit einem Prolog, in dem der Leser Nura
kennenlernt. Ein junges Mädchen, das bemüht ist, sein
Leben in einem Bergdorf Tschetscheniens zur Zeit des ersten
Tschetschenienkrieges zu meistern. Eindrucksvoll zeichnet die Autorin
in Alltagsszenen ein Gesellschaftsbild, das sich
höchstwahrscheinlich auch jetzt, vierundzwanzig Jahre danach,
nicht maßgeblich verändert hat. Auf dem Weg,
für ihre Mutter sehr fein gemahlenes Mehl für
Chepalgaschi zu besorgen, trifft sie verschiedene Personen, unter
Anderem den Störenfried Musa, der ihr mitteilt, dass sein
Vater ihrer Mutter demnächst ein Heiratsangebot unterbreiten
werde, sinniert über die ihr als junge Frau zugedachte Rolle,
über mexikanische Telenovelas, die für sie eine Art
Beispiel für einen romantischen Wunschtraum darstellen, sie
denkt daran, wie es wäre, diesen Zwängen zu
entkommen, und erinnert sich an die russische Lehrerin, die einige Zeit
im Dorf verbracht hat und den Jugendlichen Bücher und Bildung
vermittelt hat, bevor sie bei den ersten Anzeichen des nahenden Kriegs
geflohen ist. Ein "Rubiks"-Würfel dient symbolisch als
Glücksbringer, der bis zum Ende des Romans eine wichtige Rolle
spielen wird.
Im ersten Teil, "Splitter", führt die Autorin Malisch ein, der
später "Der General" (oder auch Alexander Orlow) wird, einen
jungen Mann, klug und gebildet, der darunter leidet, dass sein Vater
als Held der Sowjetunion gestorben ist. Der große Wunsch
seiner Mutter ist eine Militärlaufbahn für ihren
Sohn. Während sie alle Kontakte für eine erfolgreiche
Aufnahme bemüht, torpediert der Junge all diese
Bemühungen und fällt jedes Jahr im Aufnahmeverfahren
durch. Erst als seine Jugendliebe Sonja sich von ihm trennt, tritt er,
in der Hoffnung, sie durch Mitleid umzustimmen, in die Armee ein und
wird natürlich sofort nach
Tschetschenien entsendet.
Abwechselnd folgt man ihm auch anno 2016, bereits als "Der General".
Was damals in Tschetschenien passiert ist, prägt seither sein
ganzes Leben. In diesem Moment wurde er zum General und
übernahm eine Rolle, die vorsah, dass ihn niemand mehr
drangsalieren oder herumkommandieren würde.
Ebenso werden die weiteren Protagonisten eingeführt, wie "Die
Krähe", ein ehemaliger Reporter, der nach einem erfolgreichen
Buch sozial abgestiegen ist und nunmehr als Nachtwächter
arbeitet. Auch hier wird zwischen dem Jahr 2016 und
Rückblenden aufgerollt, wie es dazu gekommen ist, dass alles
so ist, wie es ist. Eine dunkle Verwicklung mit der Tochter des
Generals, an deren Tod er sich schuldig fühlt.
Ebenso wird "Die Katze" eingeführt, eine junge, in Georgien
geborene Schauspielerin, die das harte Leben einer freischaffenden
Darstellerin in Berlin führt und die Schulden ihrer Mutter
abbezahlen möchte. Sie hat eine Beziehung mit einem
verheirateten berühmten Komponisten, die einerseits
leidenschaftlich und andererseits komplett einseitig ist.
Die nicht unwesentlichen Nebenfiguren werden natürlich auch
eingeführt, Zaika ("Der Hase"), Oberst Petruschow und
Kommandant Schujew, die alle aus unterschiedlicher Motivation heraus
den Weg in die Armee gefunden haben. Und auch Aljoscha, der sich als
Koch der Einheit zusammen mit dem jungen Alexander Orlow darum
kümmert, die Lebensmittel für gute Speisen zu
beschaffen. Dabei treffen die beiden auf Nura, die ihnen immer wieder
Hühner und Eier von ihrem Hof verkauft. Mit diesem Geld
möchte sie weg von hier, um ein neues Leben zu beginnen, ein
Leben, in dem sie ihren Partner frei wählen darf, ohne
Kopftuch unterwegs sein kann und einfach frei entscheiden
darf, was sie tun möchte. Aljoscha verliebt sich in die
geheimnisvolle Nura und setzt damit etwas ingang, das später
nicht mehr zu verhindern sein wird.
Als der General eines Tages (2016) in Berlin ein Plakat mit dem Gesicht
der jungen Schauspielerin, die eine Zwillingsschwester Nuras sein
könnte, sieht, entwirft er einen Plan, um nun, viele Jahre zu
spät, die Schuld von 1995 zu sühnen. Dafür
engagiert er jenen Mann, den auch er für den Selbstmord seiner
Tochter verantwortlich macht, und "Die Krähe": Ein Video, in
dem die Schauspielerin Zaika, Petruschow und Schujew als Nura zu einem
Neujahrstreffen nach Tschetschenien einlädt. Onno ("Die
Krähe") wird in Aussicht gestellt, endlich das Buch
über Orlow schreiben zu dürfen, was Adas Selbstmord
im ersten Anlauf verhindert hat.
Virtuos wechselt Nino Haratischwili zwischen den Lebenslinien und
Figuren hin und her, immer wieder tief in der Vergangenheit grabend,
die sie dazu benutzt, eindrückliche Sitten- und
Gesellschaftsporträts der Menschen in
Georgien und Russland
noch während und knapp nach der Sowjetzeit zu zeichnen, die
sich allerdings immer der sehr gut konstruierten Geschichte
unterwerfen, welche die Autorin als roten Faden konsequent durch die
764 Seiten zieht. Dieser rote Faden zieht sich wiegesagt wirklich durch
das gesamte Buch, auch wenn immer wieder scheinbar
unzusammenhängende Rückblicke erzählt werden
oder Abschweifungen stattfinden. Wie beim für diesen Roman so
wichtigen "Rubiks"-Würfel ist es auch hier, alles hat
irgendwie miteinander zu tun, alles ist irgendwie von etwas
abhängig; das, was wir sind, hängt unabdingbar damit
zusammen, was wir durchlebt haben, um unser heutiges Ich zu erreichen.
Faszinierend genau sind Haratischwilis Schilderungen der
postsowjetischen Perestroika-Zeit, als diejenigen, die eine gute Nase
für Geschäfte und zudem die richtigen Kontakte
hatten, so schnell reich wurden, dass sie teilweise keine Ideen hatten,
was sie mit dem so überraschenden Reichtum alles machen
konnten. Ebenso faszinierend ist der Einblick, den Haratischwili dem
Leser in das Oligarchentum bietet und auch in das derzeitige Russland,
das Putin nach Jelzin
dahingehend reformiert hat, dass er einfach mehr
Kontrolle darüber hat, wer wo wie viel verdienen kann, solange
er sich nicht mit der Obrigkeit verscherzt.
Je näher das wie ein Spiel angelegte Treffen rückt,
desto tiefere Einblicke gewährt die Autorin in das, was damals
1995 passiert ist, als Nura eines Nachts von russischen Soldaten
aufgegriffen wurde. Welche Rolle spielte Orlow wirklich? Wer von den
vier Männern hat Nura getötet?
Nino Haratischwili erzählt diesen Roman aus unterschiedlichen
Perspektiven und mit einem immer changierenden Erzählrhythmus,
der perfekt ausgehört ist und sich auf wohltuende Weise
jeglichen modischen Experimenten verweigert. Gleichzeitig scheut sie
nicht davor zurück, mit einer ordentlichen Portion Pathos zu
erzählen, was dazu führt, dass man sich entfernt an
die großen russischen Klassiker von Tolstoi
und Dostojewski
erinnert fühlt. Eine große, fesselnde Geschichte,
meisterhaft erzählt, die viele Fragen aufwirft und dabei nie
mit erhobenem Zeigefinger moralisierend wirkt. Blendend ihre
Figurenzeichnung, die tief ins Innere ihrer Figuren blicken
lässt, die allesamt überzeugen.
"Die Katze und der General" ist ein großartiger Roman, der
eine sehr natürliche und selbstsichere, im besten Sinn fast
altmodische Lust am Erzählen aufweist, die sich sofort auf den
Leser überträgt, so dass die zu kurzen
Nächte erst wieder lang genug sind, wenn man nach 764 Seiten
am Ende des Romans angelangt ist.
(Roland Freisitzer; 09/2018)
Nino
Haratischwili: "Die Katze und der General"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2018. 764 Seiten.
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