Alexander Moritz Frey: "Solneman der Unsichtbare"
"An
einem Wintermorgen erschien ein Mann, vom Kopf bis zu den
Füßen in einem Blaufuchs, dessen Haare er nach
außen trug, auf dem Rathaus und begehrte das Oberhaupt der
Stadt zu sprechen." (Beginn des Romans)
Ein unermesslich reicher Ausländer bietet einer (ungenannten)
deutschen Stadt eine gigantische Summe. Er will den Stadtpark
kaufen und bis zu seinem Tod ausschließlich für
höchstpersönliche Zwecke nutzen. Der eigenartig
sprechende Mann wirkt wenig vertrauenerweckend, doch die gebotene Summe
von 150 Millionen Mark überzeugt die Verantwortlichen
schließlich, und der Verkauf kommt zustande.
Ein verhängnisvoller Götzendienst, der bereits nach
Verderben und Untergang riecht. Prompt lässt der stets mit
falschem Bart sowie Brille und Perücke oder schlicht maskiert
mit schwarzer Larve auftretende Hciebel Solneman
(rückwärts gelesen: "Ich lebe namenlos") den Park mit
einer breiten dreißig Meter hohen Mauer mit verborgenen
Geheimtüren umgeben und allerlei exotische Tiere sowie
modernste Apparaturen herbeischaffen.
Auf der Mauer reitet er, für alle Interessierten gut sichtbar,
auf seinen Elefanten oder dem Trampeltier, fährt waghalsige
Auto- und später Bootsrennen, und bisweilen beobachtet er die
Städter "von oben herab" oder mischt sich - wie einst der
legendäre Kalif von Bagdad, Harun
al-Raschid, verkleidet unter sie, was im Nachhinein erst
recht für Aufruhr sorgt, zumal es auch zu peinlichen
Missverständnissen und Verwechslungen kommt.
Anscheinend ist Solnemans einzige menschliche Mitbewohnerin eine
riesenhafte Schwarze, doch mit der Zeit kommen auch daran Zweifel auf.
Der Fremde wünscht strikten Respekt vor seiner
Privatsphäre, was er gleich zu Beginn klarstellt und bald mit
einem auf der Mauer errichteten Galgen, an dem eines Tages als Warnung
ein Storch baumelt, untermauert.
Alexander
Moritz Frey, am 29. März 1881 in München
geboren, von seinen Freunden "AMF" genannt, fing in seinem
Romanerstling den damaligen überreizten Zeitgeist und die
herrschende Endzeitstimmung ein, wobei es sich bei "Solneman der
Unsichtbare" um mehr als eine expressionistische Satire auf das
Deutsche Kaiserreich, also um mehr als an die Entstehungszeit des
Romans gebundene Kritik an Wilhelmismus, Militarismus und
Obrigkeitsgebaren handelt, denn exzentrische Superreiche, die ohne
Rücksicht auf Verluste unter schamlosem Einsatz unendlich
scheinender Reichtümer ihre Interessen und Launen ausleben,
Wendehalsbiedermänner, Spießer und weltfremde
Behörden gibt es nach wie vor, nur die Majestäten
sind verschwunden. Somit ergeben sich mehr oder weniger erstaunliche
Parallelen zu unserer Gegenwart.
Über die Verführbarkeit bzw. Käuflichkeit
der Menschen, Teufelspakte u. dgl. wurde und wird viel geschrieben,
handelt es sich doch um ein zeitlos brisantes Thema, beispielsweise in Friedrich
Dürrenmatts am 29. Jänner 1956 in
Zürich uraufgeführter tragischer Komödie
"Der Besuch der alten Dame".
Die umfassende Beschleunigung des Alltags durch den technischen
Fortschritt, das spürbar gewordene Heraufdämmern
einer Zeitenwende und eine allgemeine orientierungslose
Zukunftsbegeisterung kombiniert mit diffusen
Untergangsbefürchtungen ergaben damals in Summe eine
spannungsgeladene Atmosphäre, die sich anscheinend immerhin
befruchtend auf die
avantgardistische Kulturszene auswirkte.
Die
Erstausgabe des Romans "Solneman der Unsichtbare" erschien im Jahr 1914
mit 13 Holzschnitten des Kölner Künstlers Otto
Nückel (6.9.1888-12.11.1955), der auch den Einband gestaltet
hatte und wie Frey im Ersten Weltkrieg als Sanitäter diente.
Die in der gegenständlich besprochenen Romanausgabe enthaltene
mehrseitige Zeittafel informiert: "1909 - Frey liest in
privatem Kreis in der Wohnung des Theaterwissenschaftlers Arthur
Kutscher das erste Kapitel aus Solneman vor;
unter den Zuhörern befindet sich auch Thomas Mann."
"Als der junge Schriftsteller im Jahr 1909 die ersten Kapitel
in einer Münchner Künstlerrunde vorlas und viel zu
schnell wieder aufhören wollte, erhob sich in der ersten Reihe
ein junger Mann und bat Frey, doch bitte fortzufahren, er sei sicher,
er spreche im Namen aller. Frey war eher erschrocken als ermutigt,
denn
der Herr war niemand anderes als Thomas Mann. 'Ich entsinne mich
gerade
dieses Wortes. Fortfahren - argwöhnte ich - das konnte auch
bedeuten: sich aus dem Staube machen. Aber ich blieb und las.' Es
dauerte noch einige Jahre, bis Solneman
fertiggestellt war, aber die Freundschaft mit Thomas Mann, die begann
schon jetzt", schreibt Volker Weidermann in "Das Buch der
verbrannten Bücher".
Wenig überraschend, (heute wäre es bestimmt nicht
anders, man denke nur an zudringliche Paparazzi und lüsterne
Klatschseitenleser), wächst die Neugier der ausgesperrten
Städter von Tag zu Tag, zumal der ausländische
Superreiche nicht selten die Bevölkerung von seiner massiven
Mauer herab zu verhöhnen scheint und mit allermodernsten
Gerätschaften wie auch bislang ungekannten Materialien,
riesengroßen Bestellungen und provokanten Aktionen immer
wieder Aufsehen erregt, also keineswegs ein ruhiges, beschauliches
Eremitendasein im ehemaligen Park führt. Wer und was mag er
sein? Nach heutigem Maßstab ein neureicher Sonderling, der
sich über ortsübliche Gesetze und Gepflogenheiten
hinwegsetzt, weil er es sich eben leisten kann, jegliches
Bußgeld umgehend zu bezahlen.
Da ist also doch tatsächlich ein Zugereister, der ungeniert
mit seinen Reichtümern protzt, einer, der mit suspektem
Individualismus auftrumpft, einer, der wenig bis nichts mit den
Einwohnern der Stadt zu tun haben will und hinter der mit befremdlichen
Malereien verzierten Kristallmauer im Park absonderliche Experimente,
welche die Stadt bisweilen in Lichtblitze tauchen oder in
grauenerregende Geräusche einhüllen, anzustellen
scheint!
Weil eines Tages Seine Majestät den Unsichtbaren im Rahmen des
Stadtbesuchs kennenzulernen wünscht, wird eine List ersonnen,
die Solneman jedoch in letzter Sekunde als solche erkennt und flieht.
Neid und Hass fressen sich in die Seelen der Städter, zumal
Gerüchte die Runde machen, Solneman sei früher als
Varietékünstler aufgetreten, habe
womöglich bereits mehrere Menschen ermordet und gar
unbewilligterweise einen Mops gehalten! Doch gibt es auch
Stadtbewohner, die Solneman sektenartig verehren, und die Figur
"Solneman" wird in aktuelle Theateraufführungen einbezogen,
einmal ist er sogar selbst im Publikum anwesend und dreht vor aller
Ohren den Spieß um. Überhaupt durchziehen Motive und
Figuren aus der Zirkus- und Jahrmarktswelt den gesamten Roman.
Besonders Wagemutige unternehmen diverse Versuche, in den Park
einzudringen, sei es mittels vorgetäuschter Notlandung eines
Flugzeugs (Leutnant von Eckern-Beckenbruch will es zweimal wissen!),
durch abenteuerliche unterirdische Gänge (wer ist der
geheimnisvolle Nago, der Wühlmensch, der erstaunliche
Rückfragen bezüglich zweier Bäume stellt?)
oder auf dem Wasserweg (Fräulein Sirene Golfström,
die, Wochen, nachdem sie während des Versuchs, zu Solneman
vorzudringen, verschwunden war, überraschend in St. Petersburg
auftaucht, auf die sodann prompt ein "sehr schöner
Journalist" angesetzt wird) - sie alle erleben sozusagen
ihre blauen Wunder, die Vorhaben werden mehr oder weniger elegant,
jedenfalls drastisch, vereitelt.
Dass der aufgebrachte Pöbel Solneman unter diesen
Umständen die nächtliche
Überführung eines Leichnams aus dem Park zum Friedhof
verunmöglicht, ist zwar vollkommen pietätlos, doch
auch irgendwie nachvollziehbar.
Kurzum, die Stimmung heizt sich immer weiter auf. Sogar Claire, die
Tochter des Oberbürgermeisters Bock, scheitert mit ihrer
substanzlosen Liebespsychologie am wie immer verkleideten und
maskierten Solneman, für den man gerade in dieser Situation -
zumindest als heutiger Leser - größtes
Verständnis aufbringt. Festzustellen ist allerdings, dass
Solneman im direkten persönlichen Kontakt stets ausgesucht
höflich auftritt und sämtliche
Behördenforderungen (sein Verhalten und seine Aktionen sorgen
immer wieder dafür, dass Geldstrafen verhängt werden)
prompt und bar bezahlt.
Es geht Schlag auf Schlag: Ein Schweizer Ingenieur liefert einen
fahrbaren Aluminiumturm, der Besuch einer afrikanischen Prinzessin,
angeblich unter Anderem an sieben Marabufedern auf dem Hut zu erkennen,
steht bevor, doch eine Äffin in entsprechender Kleidung,
selbstverständlich aus Solnemans Park entkommen, sorgt
für beträchtliches Durcheinander und dafür,
dass sich der entnervte Oberbürgermeister
vorübergehend in ein Sanatorium zurückzieht.
Einem ins Grübeln versunkenen Professor gelingt es eines
Nachts völlig absichtslos, die Solnemansche Mauer zu
durchschreiten, im Rahmen der anschließenden befremdlichen
Begegnung büßt der ungebetene Besucher seine Brille
ein. Ein über der Menschenjagd auf den Falschen Irrgewordener
verübt ein Kanonenattentat auf Solneman, die Folge ist ein
Loch in der Mauer, aus dem gigantische Wassermassen strömen:
sintflutartige Zustände in der Stadt!
Als eines Morgens allem Anschein nach Leutnant von Eckern-Beckenbruchs
Leiche am Solnemanschen Galgen baumelt, greifen die
Stadtverantwortlichen endlich mit entsprechender Härte durch,
überwinden mit Sicherheitskräften die Mauer und
durchsuchen das Gelände. Was sie finden, sorgt für
Verwunderung und Erstaunen, doch keineswegs für Erleichterung,
denn Solneman hat einen Brief zurückgelassen ...
"Solneman der Unsichtbare" ist ein Roman, der sich kritisch mit
Massenbewegungen auseinandersetzt, der selbsternannten braven
Bürgern Spiegel vorhält, der die Folgen dummer
Geldgier und allzu obrigkeitshörigen Verhaltens aufzeigt und
geradwegs auf den kalkulierten Eklat zusteuert.
Kurt
Tucholsky, einer der einflussreichsten Journalisten und
Schriftsteller der Weimarer Republik, attestierte Freys Romanerstling
einen "schneidenden, eiskalten Ton", allerdings
weisen nicht wenige zu jener Zeit entstandene Romane einen
ähnlich unterkühlten Erzählton, der damals
allem Anschein nach in der Luft lag, auf.
Die vorbildliche Neuausgabe von "Solneman der Unsichtbare" ist
inzwischen bereits in dritter Auflage im deutschen "Elsinor Verlag"
erschienen. Dieser Verlag führt auf seiner Netzseite an: "Der
Elsinor Verlag, 2006 als unabhängiger Verlag mit literarischem
Programm gegründet, begibt sich vornehmlich auf die Seiten-
und Nebenwege der Literatur: auf der Suche nach Romanen und
Erzählungen, Dramen und Essays, die kaum (noch) bekannt sind,
aber eine Neuentdeckung lohnen. Zu diesen Fundstücken auf
Seitenwegen zählen bedeutsame Arbeiten, die sich der
Einordnung in klar umrissene Genres entziehen (Chestertons 'Essays'!),
lesenswerte 'Nebenwerke' renommierter Autoren, gelegentlich auch
Klassiker von Rang, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind oder
die anhaltendem Ruhm zum Trotz schon geraume Zeit nicht mehr
zugänglich waren und deshalb keinen Weg mehr zu den Lesern
fanden. (...) Bei der Edition älterer Werke verzichtet Elsinor
auf Faksimiles bzw. die einfache reprographische Wiedergabe
vorhandener
Ausgaben. Vielmehr erstellen wir zunächst eine
verlässliche Textfassung - etwa auf der Basis der Erstausgabe
oder anhand eines Vergleichs mehrerer autorisierter Fassungen. Wir
legen Wert auf eine ansprechende, gut lesbare Typographie. In vielen
Bänden informiert eine Zeittafel über wichtige
Stationen im Leben des jeweiligen Autors bzw. der Autorin. (...)"
Im Verlagsprogramm von "Elsinor" scheinen Raritäten auf, die
es sich zu entdecken lohnt!
Im Anschluss an den Roman "Solneman der Unsichtbare" bietet das Buch
Anmerkungen zu Textgestalt und Literatur,
Begriffserläuterungen und die bereits erwähnte
Zeittafel.
Die Buchvorderseite ziert stimmig "Der Mann im Schlitten" von Walter
Gramatté (8.1.1897-9.2.1929), einem Maler und Grafiker des
Expressionismus sowie des Magischen Realismus, der u.A. auch Georg
Büchners "Lenz" mit Illustrationen ausgestattet hat.
Wer Freude an sensationslüsternen Schelmengeschichten mit Hang
zu grotesken Übertreibungen empfindet, ist mit "Solneman der
Unsichtbare" bestens bedient.
(kre; 08/2018)
Alexander
Moritz Frey: "Solneman der Unsichtbare"
Elsinor, 2010. 184 Seiten.
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Noch ein Lektüretipp:
Volker Weidermann: "Träumer. Als Dichter die Macht
übernahmen"
1919, Revolution in München - und alle sind vor Ort: Ernst
Toller, Thomas Mann, Erich Mühsam, Rainer
Maria
Rilke, Gustav Landauer, Oskar Maria Graf, Victor
Klemperer, Klaus
Mann, ...
Wann gab es das schon einmal - eine Revolution, durch welche die
Dichter an die Macht gelangten? Doch es gibt sie, die kurzen Momente in
der Geschichte, in denen alles möglich erscheint. Von einem
solchen Ereignis, der Münchner Räterepublik zwischen
November 1918 und April 1919 erzählt Volker Weidermann im Stil
einer mitreißenden Reportage, bei welcher der Leser zum
Augenzeugen der turbulenten, komischen und tragischen Wochen wird, die
München, Bayern und Deutschland erschütterten.
Nach der Vorgeschichte, dem Ende des Ersten Weltkriegs und der
Absetzung des bayrischen Königs, beginnt der magische Moment,
in dem alles möglich erscheint: radikaler Pazifismus, direkte
Demokratie, soziale Gerechtigkeit, die Herrschaft der Fantasie. An der
Spitze der Rätebewegung stehen die Schriftsteller Ernst
Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam, auf die nach den
Tagen der Euphorie und der schnellen Ernüchterung lange
Haftstrafen oder der Tod warten. In rasantem Tempo und aus der
Perspektive von Beteiligten und Beobachtern vor Ort wie Thomas Mann,
Klaus Mann, Rainer Maria Rilke, Adolf Hitler, Victor Klemperer oder
Oskar Maria Graf entsteht so ein historischer Spannungsbericht
über ein einzigartiges Ereignis der deutschen Geschichte.
(Kiepenheuer & Witsch)
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