Péter Esterházy: "Die Hilfsverben des Herzens"
Wenn
die Seiten nicht nur Trauer tragen: Ein seriöser Witzbold und
nimmersatter Nachmoderner erfindet Wirklichkeiten
Auch in "Die Hilfsverben des Herzens", erschienen anno 1985,
entwickelte Péter Esterházy eine Art von
Familienerzählung. Befasste sich der am 14. Juli 2016
verstorbene Schriftsteller
in seinem opus magnum "Harmonia Caelestis" vorrangig (und sehr zum
Missfallen mancher Kritiker weder historisch übersichtlich
noch chronologisch geordnet) mit männlichen Vorfahren, steht
in "Die Hilfsverben des Herzens" die Mutterfigur im Mittelpunkt.
Ausgehend von hochkonzentrierten, in knapper Form festgehaltenen
typischen Szenen vom Zusammenkommen der Familie (Vater, Bruder,
Schwester, Icherzähler), von Schilderungen des Leidens und
Sterbens der Mutter im Spital und dem Begräbnis, hebt der Text
verhältnismäßig bald in andere
Sphären ab, als nämlich gewissermaßen der
Mutter die Erzählstimme übertragen wird und sie
sodann Anekdoten sowie Erinnerungen und Träume aneinanderreiht
und ihrerseits die Beerdigung des Sohnes thematisiert.
Einer jener Kunstgriffe aus dem Füllhorn Péter
Esterházys, mit denen der Leser jederzeit rechnen kann oder
sogar muss.
Abgesehen vom Vorwort sind sämtliche Buchseiten mit
Trauerrändern versehen, dem Roman wurden zahlreiche
literarische Fremdtextpassagen ohne Quellenangaben und ohne
Anführungszeichen einverleibt. Anscheinend kalkulierte
Péter Esterházy wohl lustiglistig die
mögliche Überforderung und Provokation von Autoren
und Lesern bewusst ein, denn nicht jeden erfreut ein derartiger
Wiedererkennungswert. Der ungarische Schriftsteller bediente sich allem
Anschein nach ebenso oft und gern wie ungeniert bei Werken anderer
Literaturschaffender. Exemplarisch erinnert sei in diesem Zusammenhang
an Peter Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück"!
Gasttexte? Montage? Collage? Intertextualität? Variationen?
Inspirationen? Plagiatsvorwürfe? Péter
Esterházys Sichtweise schien Nestroys
Posse "Die Papiere des
Teufels oder Der Zufall" zu entstammen: "Das is wohl nur
Chimäre, aber mich unterhalt's".
Der letzte Satz in "Die Hilfsverben des Herzens" lautet:
"SPÄTER WERDE ICH ÜBER DAS ALLES GENAUERES
SCHREIBEN." Und genau das tat Péter (Esterházy,
nicht Handke!)
dann auch in "Keine
Kunst", im Jahr 2009 auf Deutsch erschienen.
"Die Hilfsverben des Herzens" - das sind 125 Seiten voller
Familienfantasien, heiterer Schwere, sezierter Idylle, erotischer
Eskapaden, wohldosierter Schamlosigkeiten, kultivierter Ruhelosigkeit,
gekonnt ausgereizter Freiheiten und Interpretationsspielräume
(auch in tatsächlichen oder vermeintlichen
Strafräumen), 125 Seiten voller kleiner Provokationen,
augenblicksbezogener Wirklichkeitskonstruktionen, unterhaltsamer
Teilstücke des großen Ganzen: Das menschliche Leben,
wie es (auch) ist - und Literatur, wie sie (auch) sein kann.
(Franka Reineke; 06/2018)
Péter
Esterházy: "Die Hilfsverben des Herzens"
(Originaltitel "A szív segédigéi")
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke.
BvT, 2009. 125 Seiten.
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Ein
Buchtipp:
Peter Handke: "Wunschloses Unglück"
"Unter der Rubrik Vermischtes stand in der
Sonntagsausgabe der Kärntner Volkszeitung folgendes: 'In der
Nacht zum Samstag verübte eine 51jährige Hausfrau aus
A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis
von Schlaftabletten.' Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit
meine Mutter tot ist, und ich möchte mich an die Arbeit
machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben,
das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinnige
Sprachlosigkeit zurückverwandelt, mit der ich auf die
Nachricht von dem Selbstmord
reagierte." (Suhrkamp)
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