Umberto Eco: "Nullnummer"
Medienecho
und Journalistenego
"Unserem Verleger würde es Freude machen,
Instrumente zu haben, die ihm erlauben, Leute klein zu halten, die ihn
nicht mögen." (S. 140)
Die geplante Zeitung "Domani", vom ebenso betuchten wie einflussreichen
Großverleger, dem Commendatore Vimercate, aus rein
statusbedingten Beweggründen vorfinanziert, soll scheinbar
reißerisch aufdecken und enthüllen, dabei jedoch
auch unterhalten, die schlichten Ansprüche einer brav
abgestumpften Zielgruppe befriedigen - und niemals tatsächlich
erscheinen, was jedoch nur wenigen Eingeweihten bekannt ist.
Also wird (für Italienkenner selbstverständlich
ausgerechnet) anno 1992 eine Redaktion aus einigen Journalisten
zusammengetrommelt, und der fünfzigjährige
selbsternannte Versager Colonna, der als sehr angenehmer
Icherzähler fungiert, soll im Auftrag des
überheblichen Chefredakteurs Simei sämtliche
Ereignisse detailliert festhalten, weil im Nachhinein unter Simeis
Namen ein Buch mit dem Titel "Domani: ieri" über das
sonderbare Projekt als lukratives Nebenprodukt erscheinen soll - mit
durchaus kreativen Veränderungen einzelner Fakten, versteht
sich.
Es werden Redaktionssitzungen abgehalten, die erste am 7. April, Ideen
und Pläne gewälzt, man feilt an der
künftigen Blattlinie, die Herren der Schöpfung
bedenken die weibliche Mitwirkende gern und oft genüsslich mit
abwertenden Kommentaren, denn bekanntlich ist das knallharte
Nachrichtengeschäft Männersache, die einzige Frau
soll sich gefälligst mit Horoskopen und Beziehungsgeschichten
aus der Welt der Reichen und Schönen befassen und den Mund
halten.
Es geht auch um mittelbare Einflussnahme auf
Entscheidungsträger, gekonnte Verleumdungen, das beharrliche
Fischen im Trüben, das Frisieren von Nachrichten und
Bewirtschaften der Gerüchteküche, um den
manipulierenden Einsatz von Andeutungen, Unterstellungen und Zitaten
sowie um Dossiers, und alle Beteiligten bringen sich mit Feuereifer
ein, sind sie doch endlich einmal bei einem (vermeintlich)
journalistisch anspruchsvollen Blatt gelandet und wittern ihre Chancen.
Die Planung und Abstimmung des Zeitungsprojekts schreitet voran, der
Redaktionskollege Braggadocio, seines Zeichens paranoider manischer
Monologisierer, zieht den nicht immer brennend interessierten Colonna
wiederholt bezüglich einiger absurd scheinender
Verschwörungstheorien bei gemeinsamen Spaziergängen
oder Barbesuchen ins Vertrauen. Braggadocio weiß von vielen
Dingen stundenlang zu reden, seien es nun Autos oder mancherlei
geschichtliche Ereignisse, zu denen er aufgrund von Recherchen seine
ganz eigenen Ansichten entwickelt hat. So vermutet Braggadocio hinter
zahlreichen Vorgängen ein nach wie vor weltweit operierendes
Netzwerk, es geht um Mussolini, dessen angeblichen
Doppelgänger und den Vatikan, enorme Geldsummen,
Geheimbünde, Korruption, Morde, Freimaurer, Geheimdienste usw.
Doch gibt Umberto Eco auch der sich langsam entfaltenden Romanze
zwischen Colonna und seiner Kollegin Maia Fresia, deren Rolle im
Handlungsverlauf eine beachtliche Wandlung vollzieht, Raum und Zeit.
Braggadocios Ermordung - (Was war das Motiv? Hat er in seiner
Geschwätzigkeit zu viele Heimlichkeiten ausposaunt? Schweben
nun auch sämtliche Mitwisser in Lebensgefahr?) führt
zur vorzeitigen Beendigung des "Domani"-Experiments. Vor diesem
schlagartig veränderten Hintergrund präsentiert
Umberto Eco die aufgestörten Journalisten und zeigt ihre
individuellen Reaktionen auf den Tod des Kollegen.
Eine ausländische Fernsehdokumentation löst
schlussendlich die angespannte Atmosphäre im Wochenendhaus -
nicht in Wohlgefallen, doch immerhin ernüchternd in lauwarme
Luft - auf.
Wenig erstaunlich bleiben die Romanfiguren klischeehaft und
oberflächlich (Eco hätte gewiss anders gekonnt,
hätte er gewollt!) - und dies ist ebenso unterhaltsam wie
wohlverdient bei der Darstellung der in der Medienwelt herrschenden
Gesetze und der oftmals wichtigtuerischen Schreibtischtäter,
die bei der Vermittlung von Fakten und Hintergrundinformationen
primär auf die jeweiligen Schwerpunkte bzw. Vorgaben des
Herausgebers und ihr zartbesaitetes Ego achten. Der idealtypische
Medienkonsument hat nun einmal gutgläubig, fernsteuerbar,
sensationslüstern und vor allem vergesslich zu sein!
Umberto Ecos treffsichere mittelbare Kritik fächert genussvoll
branchentypische Szenen und Themen auf, entlarvt geradezu zeitlos
scheinende Missstände in der Medienwelt und der Politik,
bildet den sogenannten "Mann von der Straße" als willig
missbrauchten fremdbestimmten Konsumenten ab, schildert
Verfolgungswahn, schillernde Verschwörungstheorien und
Einzelheiten aus der italienischen Geschichte - alles gewollt schundig,
doch ist "Nullnummer" trotzdem weit umsichtiger inszeniert als ein im
Zeitungsmilieu angesiedelter schlichter Krimi.
Übrigens hat sich Umberto Eco in seinem Roman "Der Friedhof in
Prag" erheblich ausführlicher mit
Verschwörungstheorien, Geheimbünden, der
Verkäuflichkeit von Mutmaßungen und dem Eigenleben
von
Gerüchten im Wandel der Zeiten auseinandergesetzt.
Im deutschsprachigen Raum waren im Herbst 2015 die Reaktionen der
Kritiker auf Umberto Ecos letzten Roman (Eco starb am 19. Februar 2016
im Alter von 84 Jahren an Krebs) gespalten, es fehlte gar manchem
Rezensenten merklich an Einsicht und Selbstironie (Hatte Eco etwa zu
viele "journalistische Taschenspielertricks" verraten? War er einigen
Presseleuten auf die Zehen getreten?).
"Nullnummer" bietet Spannung und Unterhaltung auf gewohntem Eco-Niveau,
liest sich rasant und räumt humorvoll-ernsthaft und
allgemeingültig mit mancherlei selbsternannten (inter)national
agierenden Scheinsäuberern und
Schlagzeilengeschäftemachern auf. Jedoch sind heutige
Meinungs-
und
Medienmacher freilich nicht mehr auf vergleichsweise
langsame Druckprodukte angewiesen, sondern dauerbefeuern quasi die
ganze Welt temporeich via Internet ...
(Franka Reineke; 06/2018)
Umberto
Eco: "Nullnummer"
(Originaltitel "Numero Zero")
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2015. 240 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2017. 233 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Umberto Eco: "Der Friedhof in Prag"
Der Italiener Simon Simonini lebt in
Paris, und er erlebt aus
nächster Nähe eine dunkle Geschichte: geheime
Militärpapiere, die der jüdische Hauptmann Dreyfus
angeblich an die deutsche Botschaft verkauft, piemontesische,
französische und preußische Geheimdienste, die noch
geheimere Pläne schmieden, Freimaurer,
Jesuiten und Revolutionäre - und am Ende tauchen zum ersten
Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes
"Dokument" für die "jüdische
Weltverschwörung", das dann fatale Folgen haben wird ... (dtv,
Hanser)
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