Zoltán Danyi: "Der Kadaverräumer"
Die
Frage der Verantwortung und Partizipation
Der Roman "Der Kadaverräumer" ist ein Versuch, die Geschichte
des Kriegs auf dem Balkan chronologisch nachzuerzählen. Der
Roman ist 2015 in Ungarn erschienen und heuer, von Terézia
Mora ins Deutsche übersetzt, im Suhrkamp Verlag
veröffentlicht worden. Der Autor verwischt in diesem Roman die
Grenzen zwischen der Geschichte des Romans und der Geschichte als
Historiografie durch Fragen und Hinterfragen, wie, wann, wo der Krieg
begonnen habe, und wer alles daran beteiligt sei; ebenso verwischt wird
der Begriff Grenze, der zwischen Kleinjugoslawien und
Großserbien hin- und herhüpft, und Grenzen des
Menschlichen, die während eines Kriegs ausgesetzt zu sein
scheinen. Der Roman gibt keine konkreten Zeitangaben, diese werden
durch Hinweise auf bestimmte Ereignisse, wie beispielsweise den
tödlichen Unfall eines Autorennfahrers, gegeben, den Tod
Titos, den Auftritt des Papstes, oder die Abfolge der Ereignisse in
seiner Erzählung, wobei dem Protagonisten aufgrund der
wiederholten Erwähnung die Reihenfolge wichtig zu sein scheint.
Ein interessanter Aspekt des Romans sind die verschiedenen Referenzen
an die ungarische und die europäische Literatur: auf
Imre
Kertész wird verwiesen, indem vergleichbar mit dem
Roman "Die englische Flagge" die us-amerikanische Flagge als Zeichen
einer möglichen Rettung gezeigt wird, die sich jedoch
außer Reichweite befindet, auf László
Krasznahorkais Roman "Krieg und Krieg" durch die
Themensetzung des Balkankriegs, auf
Samuel
Beckett, dadurch, dass die Szenerie des Kapitels "Der
Kadaverräumer" an "Warten auf Godot" angelehnt ist: drei
Personen, die einer vergeblichen Tätigkeit nachgehen,
nämlich die Opfer des Kriegs zu verscharren. Der Protagonist
ist eine dieser drei Personen, und ihm ist es nicht mehr
möglich, zwischen Menschen und Tieren zu unterscheiden.
Der Titel des Romans ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum
Einen umschreibt das "Verräumen" die ethnischen
Säuberungen, die unter Anderem in Srebrenica verübt
worden sind, Massaker und Vergewaltigungen; zum Anderen ist "Kadaver"
ein abwertend gebrauchter Begriff für einen menschlichen
Körper; weiter gefasst eine Abwertung des Menschen selbst
durch seine Reduzierung auf seine Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Nation, wie es im Krieg im ehemaligen Jugoslawien auch
geschehen ist. Der Titel im Ungarischen
"Dögeltakarító" hebt den Standpunkt noch
mehr hervor, indem "takarít" "säubern, reinigen"
und "eltakarít" "fortschaffen, Ordnung machen" bedeutet.
Der Körper ist im Roman permanent Gegenstand, indem der
Protagonist in seinen inneren Monologen seine Körperfunktionen
beschreibt; die Betonung des Essens, Trinkens und des Ausscheidens
nimmt die Existenz in den Fokus und hinterfragt die Rolle, die er im
Krieg einnimmt. Der Protagonist selbst bleibt anonym. Das Bild ergibt
sich aus Stichworten, die er nach und nach in seine Monologe
einfließen lässt. Diese Monologe haben zwar meist
einen Zuhörer, dieser wird willkürlich
ausgewählt, und dessen Funktion reduziert sich auf das
bloße Zuhören. Zu Anfang ist es ein Pfleger in einem
Krankenhaus, später ein Clochard, dann eine Geliebte.
Gemeinsam ist ihnen, dass das Gehörte sie nicht tangieren
kann, weil sie sich nicht in das Erzählte hineinversetzen
können.
Der Protagonist lässt sich als in der Vojvodina geborener
Ungar erkennen, der sich nicht positionieren kann. Die Vojvodina ist
Teil Serbiens und verpflichtet ihn zum Kriegsdienst auf dieser Seite.
Er trifft auf einen Heilpraktiker, der ihm in einer Theaterkantine von
dessen Personal empfohlen wird, der Radovan Karadzic verdeckt
darstellt, und in dessen Schuld er sich für kurze Zeit begibt.
Da Kroatien Teil des historischen Ungarns ist, könnte er sich
auf dessen Seite stellen. Ein dritter Weg wäre ein
eigenständiger autonomer Weg, den er zwar einschlagen
möchte, der aber durch die gescheiterte Flucht verhindert
wird. Die Trennung der Teilrepubliken wirft der Autor durch die
Flaggenfrage auf, da sich diese in der Farbzusammenstellung nicht
unterscheiden, wirkt diese eher verwirrend auf den Protagonisten. Er
wird von einem zwielichtigen Mann aus Split, der Dali genannt wird,
engagiert, ein Gemälde mit den Symbolen der früheren
Teilrepubliken Jugoslawiens in seiner Villa zu entwerfen.
Die Durchführung lässt ihn auch die Gewissensfrage
stellen, als er erkennt, dass dieses ein riesiges serbisches Wappen
ergeben wird.
Der Roman gliedert sich in sieben Hauptkapitel: "Amerika", "Der
Transporter", "Der Heilpraktiker", "Celia", "Europa", "Das Abendmahl"
und "Das Meer", diese wiederum fragmentiert durch kürzere und
längere Erzählpassagen, die verschiedene Aspekte und
Begleiterscheinungen in den Fokus rücken: Den Benzinschmuggel
von Ungarn nach Serbien, der die serbisch-ungarische Mafia zu seinen
Profiteuren macht, die nahezu leeren Läden in Serbien und die
Rückblicke in seine Jugend mit den jugoslawischen
Propagandafilmen einerseits und den diversen Vorteilen in Titos
Jugoslawien andererseits. Ein am Beginn stehendes Ereignis des Kriegs
ist die Errichtung der Luftbrücke, welche die US-Amerikaner
während der Belagerung Sarajewos einrichteten. Der Begriff der
Luftbrücke ist zentral, er verweist auf die
gegenwärtigen Debatten über Fluchtrouten in Europa
und kritisiert die Wortwahl "Brücke", die einen
Überbau über ein Hindernis bezeichnet, und
über die grundsätzlich in beide Richtungen verkehrt
werden kann. Die Luftbrücke ist aber nur benützt
worden, um Lebensmittel und Güter der Grundversorgung nach
Sarajewo zu bringen, wohingegen eine Flucht der Menschen aus dem
Kriegsgebiet nach Europa oder Amerika nicht Teil des Entwurfs gewesen
ist. Der Verlauf des Kriegs wird nicht anhand von konkreten
Beschreibungen des Kriegsgeschehens, sondern durch Montagen gezeigt.
Der Film "Underground" von Emir
Kusturica, eine avantgardistisch
anmutende Theaterszene, eine Diskussion zwischen schablonenhaft
charakterisierten Figuren über die Herkunft des Ćevaps und die
allegorische Darstellung Europas als Karussellfahrt.
Neben dem anonym bleibenden Protagonisten gibt es
Erzählpassagen aus der Sicht von Celia, einer kroatischen
jungen Frau, deren Vater Offizier war. Sie bewegt sich zwischen den
Männern und versucht eigenständig zu sein. Nach einer
Affäre mit P. trennt sie sich von ihm und zieht von Novi Sad
wieder nach Split. Sie erzählt von den Kriegsgräueln,
an denen ihr Vater unmittelbar beteiligt war.
P. ist die dritte erzählende Person. Er ist Derjenige, der am
Anfang aktiv auf Seiten Serbiens kämpfte, sich in der
Hoffnung, sich zu bereichern, in den Hintergrund begab, und
schlussendlich auf unklare Weise zu Tod kam.
Dem Protagonisten wird erst im Lauf der Zeit klar, welche Rolle er als
Kadaverräumer gespielt hat: die Aufgabe, Spuren zu beseitigen,
um den Anschein zu erwecken, dass keine Kriegsverbrechen
verübt wurden. Es wird die Frage gestellt, wer Verantwortung
trägt, und der Inhalt dieses Buchs zeigt, wie schwierig es
ist, eine genaue Verantwortlichkeit auszumachen, aber die Frage von
jedem Beteiligten selbst gestellt und beantwortet werden muss.
(Christian Rohracher; 11/2018)
Zoltán
Danyi: "Der Kadaverräumer"
(Originaltitel "A dögeltakarító")
Aus dem Ungarischen übersetzt von
Terézia
Mora.
Suhrkamp, 2018. 251 Seiten.
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Zoltán Danyi, 1972 in Senta/Jugoslawien geboren, studierte Philosophie und Literatur in Novi Sad und Szeged. 2003 debütierte er als Lyriker und veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten. Er promovierte 2008 über Béla Hamvas und war Lektor und Hochschullehrer. Für seinen ersten Roman "Der Kadaverräumer" wurde er mit dem "Miklós-Mészöly-Preis" ausgezeichnet.