Jean Cocteau: "Thomas der Schwindler"
"Ob
ich schreibe, ob ich filme, ob ich male - ich errege Anstoß."
(Jean Cocteau)
Jean Cocteau, der legendäre französische Filmemacher,
Poet, Maler und Schriftsteller, hat neben diverser Kurzprosa auch zwei
Romane hinterlassen. Einer davon, "Kinder der Nacht", ist ein
sprachgewaltiges Drama, das seine Protagonisten aus Not in eine
fantasiehafte Parallelwelt flüchten lässt. "Thomas
der Schwindler" ist, obwohl ebenso in Fantasiewelten abdriftend, ganz
anders. Es ist ein Schelmenroman, der sich nicht nur sarkastisch,
sondern auch mit einer gehörigen Portion Zynismus
präsentiert.
Cocteau, der nie einer geregelten Arbeit nachgehen musste und die
meiste Zeit des Tages, wenn er nicht gerade künstlerisch
tätig war, damit verbrachte, seine Garderobe für den
Abend auszusuchen, war selbst ein Dandy, der aus
Langeweile in den Ersten Weltkrieg ziehen wollte. Untauglich befunden,
durfte er allerdings nicht. Der Meister der Selbstinszenierung erschuf
sich daraufhin eine goldene Fantasieuniform und beschäftigte
sich mit der Organisation von Transporten von Kriegsverwundeten.
Der Protagonist dieses Romans ist zu jung für den Krieg. Da er
seine naiv-romantische Vorstellung vom Krieg erleben will, dichtet er
sich ein Jahr dazu und gibt sich als Neffe des gleichnamigen
berühmten Generals de Fontenay aus. So erschwindelt er sich
seine Rolle als Soldat. Er wird nach Reims geschickt, wohin er in einem
Wagenkonvoi mit einer lebenshungrigen Prinzessin und ihrer blutarmen
Tochter, die sich dann auch noch in Thomas verliebt, reist. Mit dabei
sind auch noch ein schräger Arzt, eine
äußerst ehrgeizige Krankenschwester und ihr
Liebhaber. Die Prinzessin ist ebenso wie Thomas aus Langeweile und
Erlebnissucht dabei, sie hat die schalen Soireen mit der feinen Pariser
Gesellschaft gegen den spannenden Krieg vertauscht.
Thomas geht in seiner Rolle als Generalsneffe auf, genießt
die Lüge und das Schauspiel, freut sich auf den Krieg.
Verwerflich findet er seine Charade nicht. Seine Vorstellung davon, wie
es im Krieg zugeht, ist natürlich extrem naiv und abgehoben.
So sieht er auch das, was letztendlich die Brutalität des
Krieges ist, nur durch eine intellektuell abgehobene Brille der
Inszenierung. Als seine Tante auftaucht und die Wahrheit über
Thomas verbreiten will, wird sie einfach weggeschickt, weil sowieso
niemand die Wahrheit hören will. Zu angenehm ist es, sich in
der Welt des Schwindels zu bewegen.
An der Front werden Kekse verteilt, und alles ist mehr oder weniger ein
Mörderspaß. Der Verwundungsgrad von Verletzten wird
mit der Mistgabel geprüft; dass dabei jene Soldaten mit den
schweren Verwundungen am lautesten schreien, verwundert nicht weiter.
Ein armloser Soldat greift nach der Haltestange und fällt
einfach um. Cocteaus Beschreibungen sind zumeist geprägt von
einem scheinbar narzisstisch motivierten Bildungs- und Geltungsdrang,
wenn die Kulissen des Dramas mit Musikliebhabern auf einer Galerie
verglichen werden, die über einen schwarzen Abgrund gebeugt
Strawinsky lauschen, oder die aufgedunsenen Gesichter der
Dahinsiechenden mit El Greco verglichen werden.
Dass am Ende dieses Einbildungsromans die einzige Wahrheit eintritt,
wenn der Protagonist "ich glaube, ich sterbe"
sagt, ist eine perfekt platzierte Pointe, die dem Roman das
Tüpfelchen aufs I setzt. Wie viel an alldem ironische oder
auch echte Autobiografie bzw. Wunschautobiografie darstellt, ist
schwierig zu sagen. Es gibt allerdings Szenen, die fast zur
Gänze mit den Schilderungen in der Autobiografie der Gattin
des spanischen Malers Sert, Misia, übereinstimmen, die also
demnach anscheinend Modell für die Figur der Prinzessin
gesessen ist.
Obschon ausgezeichnet übersetzt, leidet der Roman doch an der
etwas unausgereift wirkenden Prosa, an den abgehackten Sätzen,
die den Leser lange die Zusammenhänge suchen lassen. Das wirkt
teilweise fast so, als läse man eine Skizze, die am Ende aus
Zeitmangel einfach so veröffentlicht worden ist. Mit der
Sprachgewalt von "Kinder der Nacht" hat das leider wenig gemeinsam. So
ist "Thomas der Schwindler" zwar sehr interessant, vor allem wegen der
abstrusen Ideen und Bilder Cocteaus, aus literarischer Sicht
dafür leider nicht ganz überzeugend.
(Roland Freisitzer; 07/2018)
Jean
Cocteau: "Thomas
der Schwindler"
(Originaltitel "Thomas l'imposteur")
Aus
dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Nachwort
von
Iris Radisch.
Manesse, 2018. 185 Seiten.
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Jean
Cocteau (5.7.1889-11.10.1963) entstammte einer
großbürgerlichen Familie. Schon früh zeigte
sich seine Begabung, später galt er als unkonventioneller
Neuerer und Impresario. Er bezeichnete sich selbst stets als Poet, doch
stach er hervor durch seine künstlerische Vielseitigkeit: Er
schrieb Lyrik, Prosa und fürs Theater, machte Zeichnungen und
drehte Filme. Dementsprechend stand Cocteau im kreativen Austausch mit
den wichtigsten Künstlern seiner Zeit: Erik Satie, Picasso,
Proust,
Gide, Charlie
Chaplin, François Truffaut, Matisse.
Er verstarb 1963, kurz nachdem er vom Tod seiner engen Freundin
Édith Piaf erfahren hatte.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Kinder der Nacht"
Dies ist die Geschichte einer jugendlichen Separatwelt, eines
Gespinstes von Riten, Bewusstseinszuständen und Gewohnheiten,
mit der beglaubigten Wirklichkeit nur durch wenige Fäden
verbunden. "... niemals fürchtete sie, ihre Freunde
könnten auch auf Rauschgifte verfallen, denn sie handelten
unter dem Einfluss einer eifersüchtigen, natürlichen
Droge, und hätten sie Rauschgift genommen, so wäre
dies so viel gewesen, als wolle man weiß auf weiß,
schwarz auf schwarz malen."
(Klett-Cotta)
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Noch ein Buchtipp:
Jens Rosteck: "Édith Piaf. Hymne an das Leben"
Mit ihren Chansons bezauberte sie Millionen, ihre
Bühnenpräsenz war legendär. Als "Spatz von
Paris" wurde sie zum Mythos.
Jens Rosteck schildert den dramatischen Lebensweg Édith
Piafs vom halbverhungerten Gossenkind zur international gefeierten
Berühmtheit und zeigt die Ausnahmesängerin als ebenso
zerbrechliche wie kompromisslose Künstlerin, die sich
buchstäblich für ihre Leidenschaft verzehrte.
(List)
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