Jaume Cabré: "Eine bessere Zeit"
Eine
schicksalsgeprüfte Familie und ihr nicht astreiner Stammbaum
im Sturm der Zeiten
Mit Buchtiteln ist es bisweilen ein Jammer! Da ersinnt ein - in diesem
Fall absolut herausragender - Autor für seinen Roman mit gutem
Grund den poetischen Titel "L'ombra de l'eunuc", also "Der Schatten des
Eunuchen". Doch der für den deutschsprachigen Raum bestimmte
Romantitel wirkt angesichts der Vorgangsweise in anderen
Ländern gewissermaßen zweifach kastriert und tanzt -
wieder einmal - unschön aus der Reihe: Niederländisch
"De schaduw van de eunuch", Französisch "L'ombre de
l'eunuque", Italienisch "L'ombra dell'eunuco", Ungarisch "Az eunuch
Árnyéka", Rumänisch "Umbra eunucului".
Weshalb dann der in Klammern gesetzte Untertitel "Der Schatten des
Eunuchen" im Buchinneren aufscheint, bleibt wohl ein Rätsel.
Auch nicht besser erging es bereits einem anderen Roman Jaume
Cabrés. Dieser trägt im Original den
naturgemäß erheblich aussagekräftigeren
Titel "Jo confesso" ("Ich bekenne") - und ist im deutschsprachigen Raum
unerklärlicherweise als "Das Schweigen des Sammlers"
erhältlich. Man wundert sich kopfschüttelnd
über diese Anmaßung hinsichtlich der Deutungshoheit
und die mutmaßliche Interpretationswillkür.
Der Originaltitel des gegenständlich besprochenen Romans spielt
übrigens - wohl nicht ungewollt - auf die Aussage des 1929 als
Sohn österreichischer Juden in Paris geborenen und 1940 mit
seinen Eltern in die USA emigrierten Universalgelehrten und
Schriftstellers George
Steiner an, derzufolge der Kritiker den Schatten eines
Eunuchen wirft!
Der Güte von Jaume Cabrés Schaffen vermag freilich
auch ein vergleichsweise hohl klingender Titel nichts anzuhaben,
schlimmstenfalls werden mögliche Interessenten
zunächst auf falsche Fährten gelockt.
Cabrés einzigartige Erzählweise und der von ihr
bewirkte Sog schlagen den an besonderer Qualität
interessierten Leser sofort in Bann, mag der für den
deutschsprachigen Raum herbeierfundene Buchtitel noch so nichtssagend
oder auch abgedroschen klingen!
Daher die nachstehenden an die Verlage gerichteten Aufforderungen bzw.
Ermutigungen: Halten Sie den mit Bedacht von renommierten Autoren
gewählten Originaltiteln die Treue! Die Titel
übersetzter Bücher müssen nicht dem
vermeintlichen oder tatsächlichen Zeitgeist einer Region
"angepasst" werden! Opfern Sie nicht die künstlerisch
wertvollen Originaltitel aufgrund für möglich
gehaltener besserer Absatzchancen! Trauen und muten Sie den Lesern und
sich selbst getrost etwas mehr zu! Das Nivellieren nach unten schadet
dem homo sapiens sapiens!
Doch zurück zum Wesentlichen, dem herausragenden katalanischen
Autor und seinem Werk nämlich!
Der an der Universitat de Barcelona wirkende Philologe, beurlaubte
Gymnasiallehrer und Schriftsteller Jaume Cabré i
Fabré, der bemerkenswerterweise über eine
Netzpräsenz auch in deutscher Sprache verfügt (s.u.)
wurde am 30. April 1947 in Barcelona geboren.
Nachdem sein Roman "Die
Stimmen
des Flusses" (im Original anno 2004 erschienen), man
schrieb das Jahr 2007, Katalonien
war Schwerpunkt der "Frankfurter Buchmesse", im deutschsprachigen Raum
auf gebührendes Interesse gestoßen war, setzte sich
die übliche Verlagsmaschinerie ingang: Weitere Bücher
des plötzlich auch in unseren Breiten als interessant
erkannten Autors wurden übersetzt.
Im Jahr 2018 erschien - endlich, 22 Jahre nach der katalanischen
Erstveröffentlichung! - "L'ombra de l'eunuc" in deutscher
Übersetzung. Zuvor wurden folgende Titel ins Deutsche
übersetzt: "Das Schweigen des Sammlers" (2011, ein
sensationeller Roman!) und "Senyoria"
(2009; im direkten Vergleich geradezu ein Kostümschinkenkrimi
und eher leichte Kost).
"Der Schatten des Eunuchen" (somit "Eine bessere Zeit") bietet,
verpackt in die (etwas schleppend anhebende, für die
Dramaturgie jedoch unentbehrliche) Rahmenhandlung eines stundenlangen
Abendessens im ehemaligen Familienwohnsitz der Familie Gensana in
Feixes nahe Barcelona, deren Historie über Generationen,
Verwicklungen in politische Machenschaften, Liebesgeschichten, eine mit
Tücken, Lücken und Lügen gespickte
Familienchronik und vieles mehr: Zeitgeschichte und menschliche
Komödien wie auch Tragödien werden zu einem
spannenden, mitreißenden Lektüreerlebnis kombiniert.
"Viel
später, als
alles längst vorbei war, saß ich Júlias
schwarzen Augen und ihrem makellosen Teint gegenüber und
fragte mich, wann genau mein Leben die ersten Risse bekommen
hatte. Der
Gedanke überfiel mich unvermittelt, und sogleich fragte ich
mich, was ihr wohl gerade durch den Kopf gehen mochte.
Verstohlen sah
ich sie an: Sie war in die Speisekarte vertieft und
schwankte nach wie
vor zwischen dem Filet und dem Entrecôte. Ein kurzer
Rundblick hatte mir genügt, um festzustellen, dass das
Restaurant ausgesprochen geschmacklos eingerichtet war. An
welchem
Punkt war die Sache aus dem Ruder gelaufen? Vielleicht schon
vor vielen
Jahren, an jenem regnerischen Freitag im Herbst - meine
orientierungslose Phase war bereits überwunden -, als es
kurz
nach dem Essen läutete und mein Vater, der das sonst nie
tat,
aufstand und die Tür öffnete. Als hätte er
Besuch erwartet. Hinterher haben wir es alle gemeinsam
rekonstruiert:
Er hatte auf dem Treppenabsatz gestanden und mit jemandem
gesprochen,
mit wem, wussten wir nicht. Im Hinausgehen hatte er noch
gesagt, zu uns
oder zu den Wänden, er sei gleich wieder da. Wir haben ihn
nie
mehr gesehen. Es regnete, und er hatte das Haus in
Pantoffeln und
Hemdsärmeln verlassen. In der Folgezeit sollte ich noch oft
darunter leiden, dass ich nicht gemerkt hatte, wie wichtig
dieses
Klingeln gewesen war. Denn von den wenigen ausschlaggebenden
Momenten
unseres Lebens bekommen wir nichts mit, und hinterher
verbringen wir
den Rest unserer verzweifelten Existenz im sinnlosen
Bemühen,
sie wiederzuerlangen. Ich wohnte damals zu Hause, weil ich
mich gerade
von Gemma getrennt hatte. (...)" |
Die wundervolle
Romankonstruktion und deren
wohldurchdachte und perfekt ausgearbeitete Dynamik offenbaren
sich erst
im Verlauf der Lektüre, wie bei einem Konzert tauchen Motive
in Variationen wiederholt auf, erheben sich Gegenstimmen. Zart
angedeutete Verläufe, wuchtige Schicksalseinbrüche,
unzählige originelle Einfälle, verspielte
Nebenstränge, Fantasien über Geschehenes und
Nichtgeschehenes lassen ein lebendiges Panorama vor den Augen
des
Lesers entstehen. |
Schon
der Aufbau des Romans offenbart die musikalische Struktur: "Erster
Teil: Das Geheimnis des Aoristes", "Erster Satz. Andante
(Präludium)", "Zweiter Satz. Allegretto (Scherzando)",
"Zweiter Teil: Dem Andenken eines Engels", "Dritter Satz. Allegro
(Cadenza)", "Vierter Satz. Adagio (Choral: Es ist genug!)".
Überhaupt ist das Musikalische auch ein wesentlicher Teil des
Inhalts, konkrete musikalische Werke und Licht und Schatten eines
Musikvirtuosendaseins; Themen, die übrigens auch in "Das
Schweigen des Sammlers" von Bedeutung sind.
Abwechselnd zu Wort kommende Erzählstimmen, darunter der
jüngste Miquel Gensana, der sich als künstlerischen
Eunuchen sieht (daher der Originaltitel!), der gewissermaßen
seine höchstpersönliche Partitur schreibende
homosexuelle Onkel Maurici, der es faustdick hinter den Ohren hat und
die eigentliche kreative Kraft darstellt, wenn auch zuletzt im
Irrenhaus untergebracht, ein lange zurückliegender politischer
Mord mit Auswirkungen auf die Gegenwart, das seinerzeitige
plötzliche Verschwinden des Vaters, ... Mannigfaltig sind die
Ereignisse, zahlreich die auftretenden Personen, und im Nachhinein
stellt sich vieles in einem anderen Licht dar.
Auch erhalten die Figuren häufig aussagekräftige
Beinamen, die sich aus der jeweiligen konkreten Situation ergeben, z.
B. Miquel II Gensana der Verlorene Sohn, Miquel Gensana II der
Zauderer, Miquel II Robin Hood Gensana, Antoni III Gensana der
Geldscheffler, Carlota Ohneland Gensana, Urgroßvater Maur II
Gensana der Göttliche, Pere I der Flüchtige, ...
Aufgrund mehrfacher Wechsel der Erzählperspektive (erste
Person, dritte Person, unterschiedliche Figuren, bisweilen innerhalb
eines einzigen Satzes!) entsteht ein vielstimmiges Abbild einer Zeit,
die Spanien nachhaltig verändert hat, und jener Menschen, die
von dieser Zeit geprägt wurden und nicht ungeschoren
davongekommen sind. Höchstpersönliche Wendepunkte und
dramatische Familienszenen spielen sich vor dem Hintergrund der
bewegten spanischen Geschichte ab. Beispielsweise hat der junge Miquel,
sehr zum Missfallen seiner Eltern, einst die Familie verlassen, um als
politischer Aktivist im antifranquistischen Untergrund tätig
zu sein, und als sich die schreckliche Vergangenheit in die Gegenwart
zu drängen scheint, kommt sein langjähriger Freund
und ehemaliger Kampfgefährte Josep Maria Bolós zu
Tode, und jene Júlia, mit der Miquel beim Abendessen sitzt,
war dessen Geliebte, sodass sich sowohl die Kräfte vereinigter
Erinnerungen, als auch jene unterdrückter Wahrheiten und
aufrechterhaltener Lebenslügen bemerkbar machen.
Jaume Cabré bietet in seinem Roman atmosphärische
Dichte, die ihresgleichen sucht, sodass ein feinsinniger Zusammenklang
von Stimmungen und Stimmen, einmal klassisch, dann wieder gekonnt
improvisiert anmutend, entsteht.
"Eine bessere Zeit" ist Lektüre vom Feinsten für
ebenso aufmerksame wie anspruchsvolle Leser, und weil noch weitere
bislang nicht ins Deutsche übersetzte Werke dieses Autors
vorliegen, darf man auf hochkarätigen Nachschub (zur
Abwechslung auch auf Deutsch unter stimmigen Titeln erscheinend!)
hoffen!
(kre; 07/2018)
Jaume
Cabré: "Eine bessere Zeit"
(Originaltitel "L'ombra de l'eunuc")
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann und Kirsten Brandt.
Insel, 2018. 555 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de
bestellen
Lien zu Jaume Cabrés Netzpräsenz: http://jaumecabre.cat/de/