Iwan Bunin: "Ein Herr aus San Francisco"
Erzählungen 1914/1915
Große
Erzählungen des russischen Nobelpreisträgers
Es ist äußert erfreulich, dass gelegentlich
große Klassiker der Weltliteratur in neuen
Übersetzungen erscheinen. So viel besser liest sich gleich ein
Fjodor Dostojewski oder ein Henry
James in einer sprachlich interessanten, feinen
Neuübersetzung. Vor allem bei den russischen Schriftstellern
Dostojewski, Bulgakow, Tolstoi, Tschechow
und Bunin ist es eine wahre
Wohltat; man nehme beispielsweise die unglaublich guten
Übersetzungen Swetlana Geiers, die nicht nur das alte
Missverständnis über die Verniedlichungen aus dem
Russischen ins Abseits befördern, sondern gleich dazu die
Titel der Werke ins richtige Licht rücken. Fjodor Dostojewski
hatte kein Interesse an Schuld und Sühne, sonst hätte
er seinen Roman so benannt. "Verbrechen und Strafe" ist einfach der
genaue Titel und trifft genau das, was der Autor wollte. Wie wunderbar
liest sich Mikhail Bulgakow, wenn er so rotzfrech ins Deutsche
übersetzt ist, wie von Alexander
von
Nitzberg, der im Deutschen nach Meinung des
kenntnisreichen Rezensenten den Originaltonfall Bulgakows genau trifft.
Da setzt auch Dorothea Trottenberg an, die bisher nicht nur
großartige Übersetzungen von russischen Klassikern,
sondern auch von Zeitgenossen wie Vladimir
Sorokin gemacht hat. Sie trifft Iwan Bunins Tonfall sehr
genau und verschafft dem interessierten Leser so einen besonders
intensiven und direkten Genuss dieser feinen, geschliffenen und
tiefgehenden Erzählungen, wenngleich bedauerlicherweise in
alter Rechtschreibung.
Die im gegenständlich besprochenen Band versammelten
Erzählungen sind in den Jahren 1914 und 1915 entstanden, zu
einer Zeit also, als sich Europa am Beginn des Ersten Weltkriegs
befand. Das hatte zur Folge, dass sich in all diesen
Erzählungen, vor allem denen aus dem Jahr 1915, eine
schwermütige Atmosphäre findet, die auch in gewisser
Weise zu einem Abgesang auf das sozusagen "alte Europa"
überleitet. Diese Zeit ist in jedem Fall mit einem starken
Umbruch in Bunins Schaffen verbunden, dazu muss man nur vor 1914
geschaffene Erzählungen mit nach 1918 entstandenen
vergleichen. Ein feinfühliger Künstler wie Bunin
konnte das Geschehen in Europa natürlich nicht ausblenden.
"Ein Herr aus San Francisco - seinen Namen hat sich weder in
Neapel oder auf Capri jemand gemerkt - reiste für zwei volle
Jahre in die Alte Welt, mit Frau und Tochter, einzig um der
Zerstreuung
willen. Er war sich vollkommen gewiß, jedes Recht auf
Erholung zu haben, auf Amüsement, auf eine lange, komfortable
Reise und noch allerlei mehr."
Die titelgebende Erzählung "Ein Herr aus San Francisco" ist
wahrscheinlich, neben "Die Grammatik der Liebe" (ebenfalls in diesem
Band enthalten), eine der wichtigsten und stärksten
Erzählungen des Autors. Bunins "Herr aus San Francisco" ist
ein genusssuchender Reicher, der selbst in schwierigen Zeiten seinem
persönlichen, wenn auch oberflächlichen
Glück nacheilt. Der Mann ist Geschäftsmann, der in
San Francisco durch Ausbeutung Reichtum angehäuft hat. Das
Wohlwollen und die Unterwürfigkeit der Menschen in seinem
Umfeld erkauft er sich. Nach einer ereignisreichen
Atlantiküberquerung, die von Stürmen und anderen
Ereignissen begleitet wird, erreicht man Neapel
und von dort Capri. Im feinen Hotel auf Capri zeichnet Bunin
große Szenen, die dank seines gesellschaftskritischen Blicks
nur so funkeln. Der feine Herr stirbt jedoch unvermittelt auf Capri,
und hier lässt Bunin den Leser in die Tiefen der
Menschlichkeit blicken. Der soeben noch unterwürfig bediente
Herr ist, als Leiche, nicht mehr als ein Übel, das, zugunsten
der anderen feinen Gäste des Hotels möglichst schnell
und ohne viel Aufsehen entsorgt werden soll. Alles, was vorher noch
für Geld zu haben war, ist nun nicht mehr
selbstverständlich. Weder ein schlichter Sarg, noch die
Rückführung des Verstorbenen aufs Zimmer, denn was
sollen die anderen Gäste da denken. Einzig eine Kiste,
Überbleibsel des aus England importierten Sodawassers,
lässt sich statt eines Sarges auftreiben. In dieser wird der
"Herr aus San Francisco" dann auch nach Hause verschifft.
Es sind große Momente, die Bunin zeichnet. Von der Stimmung
an Bord des Schiffes auf der Überfahrt nach Europa,
über die Zeit in Italien und bis hin zur Rückkehr des
Toten nach San Francisco. Da gibt es Sätze und Szenen, die man
mehrfach lesen will, weil sie so stimmig und beeindruckend sind, dass
man durch genaues, teilweise mehrfaches Lesen erst versteht, wie viel
Iwan Bunin auf so wenigen Seiten zu sagen hatte.
"An den Abenden klafften die Decks der 'Atlantis' in der
Dunkelheit wie mit unzähligen feurigen Augen, und eine
große Anzahl Dienstboten arbeitete mit
außerordentlicher Betriebsamkeit in den Küchen,
Spülküchen und Weinlagern. Der
Ozean, der jenseits
der Schiffswände vorbeizog, war beängstigend, doch
man dachte nicht an ihn, im festen Glauben daran, daß der
Kapitän ihn zu beherrschen wußte, ein rothaariger
Mann von ungeheurer Größe und
Schwerfälligkeit, der immer einen schläfrigen
Eindruck machte, in seiner Uniform mit den breiten Goldtresen an einen
riesigen Götzen erinnerte und nur höchst selten seine
geheimnisumwobenen Gemächer verließ, um sich in der
Öffentlichkeit zu zeigen; auf dem Vordeck heulte mit
höllischer Düsternis und jaulte mit
ungestümer Wut in einem fort die Sirene, doch nur wenige der
Speisenden vernahmen sie - sie wurde
übertönt von den Klängen des
vorzüglichen Streichorchesters, das exquisit und
unermüdlich aufspielte in dem riesigen, mit zwei Fensterreihen
versehenen Saal ..."
Auch die anderen Erzählungen sind ausgezeichnet, haben
unterschiedliche Motive und Ideen und sind teilweise unvergesslich. So
wie auch "Die Grammatik der Liebe", die fast als eine surreal anmutende
Geschichte über ewige Liebe über den Tod hinaus
interpretiert werden könnte.
Inhalt:
Erzählungen 1914: "Die Heiligen", "Ein
Frühlingsabend", "Brüder", "Klascha", "Eine
Geschichte für die Weihnachtszeit"; Erzählungen 1915:
"Die Grammatik der Liebe", "Ein Herr aus San Francisco".
Dieser Band ist der zehnte der großartigen und
wunderschön aufgemachten Bunin-Werkausgabe des
"Dörlemann Verlags", die jeder Literaturliebhaber nicht nur in
seiner Bibliothek ausstellen, sondern auch lesen sollte. Iwan Bunins
Erzählungen sind auf den ersten Blick unspektakulär,
sie fordern konzentriertes Lesen und belohnen den Leser mit unendlich
vielen Erkenntnissen.
Großartige Literatur, großartig übersetzt,
ein literarischer Höhepunkt der unaufdringlichen Sorte, der
dafür umso eindringlicher im Gedächtnis bleibt.
(Roland Freisitzer; 06/2018)
Iwan
Bunin: "Ein Herr aus San Francisco"
(Originaltitel "Gospodin iz San-Francisko")
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Herausgegeben von Thomas Grob.
Dörlemann, 2017. 239 Seiten.
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Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10. Dezember 1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil.