Friedrich Ani: "Der Narr und seine Maschine"
Ein Fall für Tabor Süden
Literarische
Hommage an Cornell Woolrich
Wer, wie der Rezensent, noch keinen der bisherigen zwanzig Romane um
den Privatdetektiv Tabor Süden gelesen hat, wird sich die
Frage stellen, ob es überhaupt Sinn hat, bei "Der Narr und
seine Maschine" einzusteigen. Noch dazu, wo dieser Roman quasi ein
Epilog ist, weil nach dem Vorgängerroman eigentlich Schluss
hätte sein sollen. Die Antwort ist einfach: ja, und wie.
"Der Narr und seine Maschine" beginnt damit, dass Tabor Süden
dabei ist, zu verschwinden. Zurückgelassen hat er eine leere
Wohnung und sein Mobiltelefon. Am Münchner Hauptbahnhof.
Gleichzeitig ist Cornelius Hallig, als ehemals berühmter
Krimiautor Georg Ulrich bekannt, ebenfalls dabei, zu verschwinden. Er
beobachtet das verwahrloste Haus, in dem seine alleinerziehende Mutter
vor vielen Jahren als Schneiderin gearbeitet hat. Obwohl es
heiß ist, wir haben Juli, steht er im Wintermantel da in
Zamdorf, verloren irgendwie. Er erinnert sich an seine Kindheit,
Jugend, an den fast nicht vorhandenen Vater und die versehrte
Persönlichkeit seiner Mutter. Unschlüssig. Er hat das
Hotelzimmer zurückgelassen, in dem er die letzten Jahre mit
seiner Mutter gewohnt hat. Seit dem Tod der Mutter gibt es in Schwabing
nur mehr eine Tante, zu der er keinen Kontakt hat. Das Hotelpersonal
ist eine Art Ersatzfamilie geworden. Hallig ist krank, hat ein offenes
Bein, ist abgemagert und verweigert Ärzte
ebenso wie Kontakt
zu Mitmenschen. Mitgenommen hat er anscheinend nur eine Pistole.
"Das war der Tag, an dem nichts Besonderes geschah. Ein
Vater, der sich vor der Geburt seines Kindes aus dem Staub gemacht
hatte, lieferte seinen letzten Unterhalt ab. Ein Hund, der nicht
angeleint war, weil sein Herrchen vor lauter Übermut nicht
daran gedacht hatte, hüpfte über den niedrigen
Holzzaun und stob auf die Straße, vor die Räder
eines Sattelschleppers. Linus stand am Zaun, der den
Bürgersteig vom Grundstück trennte, und kam nicht von
der Stelle - wie in einem grauenhaften Traum. Cornelius Hallig sah das
rote Licht an der Fußgängerampel und ging los."
Ebenso unschlüssig ist Tabor Süden unterwegs, als er
von seiner ehemaligen Chefin Edith Liebergsell am Bahnhof erwischt
wird. Auch er hat alle Kontakte zu seinem Umfeld abgebrochen, seit sein
Kollege in der Kanzlei verbrannt ist.
Dass Tabor Süden die Suche nach dem verschwundenen Cornelius
Hallig dennoch aufnimmt, überrascht dann doch. Vielleicht
liegt es daran, dass er früher die Krimis
des Vermissten
gelesen hat und eine gewisse Nähe spürt, die ihn dazu
bringt, doch noch einmal auf die Suche zu gehen.
Abwechselnd gibt Friedrich Ani Einblicke in die Gedankenwelten und
Aktionen der beiden Protagonisten frei, die einander so
ähnlich sind, dass Tabor Süden nach Kontaktaufnahme
mit Halligs Lektorin bald ahnt, welche Wege der Vermisste nehmen wird.
So kommen sich die beiden Männer sukzessive immer
näher.
"Wissen Sie, was ich dachte, als ich wieder zu Hause war und
die Begegnung, von der ich mir so viel erhofft hatte, Revue passieren
ließ? Ich dachte, bitte lachen Sie mich nicht aus, ich
dachte, vielleicht hat er das Lächeln verlernt, er
weiß nicht mehr, wie es geht. Wenn Sie in sein Gesicht
schauen, kommen Sie nicht auf die Idee, dass da je ein Lächeln
war. Irgendwann vor langer Zeit muss er es aufgegeben haben.
Gestrichen, wie einen Satz in einem Text, der nicht passt."
Wer einen Krimi erwartet, wird allerdings enttäuscht sein.
Friedrich Anis Interesse gilt den beiden Eigenbrötlern, ihrem
jeweiligen Innenleben. Dass da kaum Bewegung aufkommt, ist nicht
überraschend. Eine äußert wichtige Ebene
öffnet sich, wenn man das Gedenkblatt liest, das der
Münchener Autor zum fünfzigsten Todestag des
us-amerikanischen Autors Cornell Woolrich verfasst hat. Das Pseudonym
Georg Ullrich scheint ja auch bereits eine Variante von Cornell
Woolrich zu sein. Wenn man hier weitergräbt, erfährt
man, dass der us-amerikanische Autor, hierzulande längst
vergessen und vergriffen, ebenso wie der Protagonist dieses Romans,
jahrelang mit seiner Mutter in Hotels gelebt hat. Auch der Titel dieses
Romans ist ein Zitat aus Woolrichs Autobiografie "Blues of a Lifetime"
(eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor). Als Narr mit
seiner (Schreib-)Maschine hat sich Cornell Woolrich dort selbst
bezeichnet. So ist dieser Roman auch als eine literarische Hommage an
den Autor zu verstehen, der nicht nur einer der interessantesten
Mitgestalter des "Crime Noir" war, sondern unter Anderem auch die
Vorlage zu Alfred Hitchcocks "Das Fenster zum Hof" geliefert hat.
Eine extrem reduzierte, dennoch tiefenwirksame Traurigkeit
überschattet diesen Roman, der ein entschleunigtes Lesen
verlangt. Das ist äußerst stark und
entschädigt in jeder Hinsicht für die nicht
vorhandene Krimihandlung, die man möglicherweise in einem
Roman mit Tabor Süden erwartet hat. Der Rezensent hat nach
diesem Roman jedenfalls große Lust bekommen, die vorigen
Romane um Tabor Süden kennenzulernen.
Sehr empfehlenswert.
(Roland Freisitzer; 11/2018)
Friedrich
Ani: "Der Narr und seine Maschine. Ein Fall für
Tabor Süden"
Suhrkamp, 2018. 143 Seiten.
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Ein
weiteres Buch des Autors:
"All die unbewohnten Zimmer"
"Die Vier" müssen in diesem Roman aktiv werden: Polonius
Fischer (der ehemalige Mönch), Tabor Süden (der
zurückgekehrte Verschwundenensucher), Jakob Franck (der
pensionierte Kommissar, immer noch Überbringer der schlimmsten
Nachricht) und Fariza Nasri (Beamtin mit syrischen Wurzeln,
erlöst von der Verbannung in die Provinz). Alle wenden ihre
einzigartigen Methoden auf, um die Ermordung einer Frau und die
Erschlagung eines Streifenpolizisten aufzuklären.
Die Todesfälle erregen größte
Aufmerksamkeit, weil sie gesellschaftliche und politische Debatten
(ausgehend vom rechten Rand) über die unfähige
Polizei, Flüchtlingskinder, Ost- und Westdeutschland, "das
System" anfachen.
Deshalb kämpfen "die Vier" mit möglichen Hinweisen
auf die Täter, Zeugen, die nichts gesehen haben wollen, suchen
nach Vermissten, die zur Aufklärung beitragen (sollten), sind
konfrontiert mit falschen Geständnissen. Nachfolgeverbrechen
können sie dabei zunächst nicht verhindern - bis die
unterschiedlichen Fahndungsmethoden "der Vier" den Zufall in
Notwendigkeit überführen.
In diesem Roman schlägt Friedrich Ani einen Weg durch das
Gestrüpp unserer politischen und individuellen Verfasstheit.
Er eröffnet Aussichten, die dem Leser vom Rand des Abgrunds
Einblick in das Unbeschreibliche eröffnen. (Suhrkamp)
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