Bachtyar Ali: "Die Stadt der weißen Musiker"
Die Stadt der traurigen
Reisenden
Im Jahr 2016 erschien Bachtyar Alis Roman "Der
letzte Granatapfel". Dieser großartige Roman, der die Suche eines
aus der Haft entlassenen Vaters nach seinem Sohn zeichnet, in Wahrheit
aber ein zutiefst verstörendes Bild einer vom Krieg zerstörten
Gemeinschaft zeigt, markierte die Entdeckung eines großartigen Autors,
der auf Sorani, der südöstlichen Variante des Kurdischen, schreibt, in
einer Sprache, in der sich ungefähr zehn Millionen Menschen
verständigen, von denen ein großer Teil Analphabeten sind. 1966 in
Sulaimaniya im kurdischen Teil des Nordiraks geboren und seit den
1990er-Jahren in Deutschland lebend, werden seine Romane nun von
begeisterten kurdischen Lesern unter Beihilfe eines sehr überzeugenden
Lektorats übersetzt. Das Ergebnis ist wirklich beeindruckend.
Wie in "Der letzte Granatapfel" ist sind auch hier die Ausgangspunkte
Gewalt und Krieg, wie im Vorgängerroman ist auch hier zutiefst bewegend,
wie Ali es schafft, über Gewalt zu schreiben, ohne dabei roh, plakativ,
unästhetisch oder gar sentimental zu sein. Sehr interessant ist auch,
wie frei und ungeschliffen sich Alis Ideen, seine erzählerischen
Diskurse durch den Text bewegen, das ist erfrischend neu und anders.
Letztendlich einfach wirklich gut.
"Die Stadt der weißen Musiker" ist nun so etwas wie ein Künstlerroman,
der damit beginnt, dass ein in den Niederlanden lebender Autor, Ali
Sharafiar, am Flughafen in Amsterdam von einem Unbekannten angesprochen
wird, der ihn bittet, ein Paket mit nach Kurdistan zu nehmen, das er nur
einer gewissen Rauschani Mustafa Saqzi übergeben darf.
"'Nein, das Wichtigste ist, dass Sie es ihr selbst aushändigen',
beharrte er. 'Sie müssen völlig sicher sein, dass sie wirklich
Rauschani Mustafa Saqzi ist. Sie dürfen das niemand anderem übergeben,
denn sie hat Ihnen Dinge zu berichten, die sehr wichtig sind. Es geht
nicht nur um diese Noten und CDs, es geht um mehr. Sie wird es Ihnen
erzählen.'"
Ohne von dieser Sache überzeugt zu sein, lässt sich Ali Sharafiar darauf
ein und wird, in Kurdistan angekommen, damit beauftragt, das Leben von
Dschaladati Kotri aufzuzeichnen, einem Flötenspieler, der fast zu einer
mythologischen Figur in seiner Heimat geworden ist. Nun rollt Bachtyar
Ali die Lebensgeschichte von Dschaladati Kotri spannend auf. Besonders
interessant ist, dass sie abwechselnd von Ali Sharafiar und dem
Flötenspieler selbst erzählt wird, was ja noch nicht so innovativ wäre,
wenn die beiden Sichtweisen nicht miteinander konkurrieren würden.
Während die Darstellung des Schriftstellers eher bemüht ist, literarisch
weich, bedeutungsvoll und auch teilweise abgeschwächt zu sein scheint,
ist die des Flötenspielers nüchtern, schonungslos und teilweise rau. So
ergibt sich eine wunderbare Symbiose eines Erzählstrangs, zwei
Darstellungen einer tragischen Lebensgeschichte.
Dschaladati Kotri wird bei einem Massaker unverhofft von einem Mörder
vor den Schergen Saddam Husseins gerettet. Der Prozess der Sühne für
seine Morde gelingt mit dem geretteten Flötenspieler fast, aber eben
nicht ganz. Nun, da er nur knapp überlebt hat, stellt sich heraus, dass
Kotri so etwas wie ein mythisches Wesen ist, das zwischen Leben und Tod,
Jenseits und Diesseits, erfundener und wirklicher Welt, zwischen Poesie
und Realität hin- und herwechseln kann. Dass das so ist, öffnet sich dem
Leser erst nach einiger Zeit und verschafft dadurch eine berauschende
Erkenntnis. Dass diese Entwicklung auch überzeugend funktioniert, liegt
an der immensen Stärke dieses Texts, der gewaltige Landschaften, Bilder
und Figuren so realistisch zeichnet, der bildhafte aber nie plakative
Metaphern kreiert, sodass man sich oft in diesem hier gezeichneten
Kurdistan wähnt. Man meint sogar, die Gewürze zu riechen, die Musik zu
hören, die Hitze zu spüren und das Leid zu sehen, das Dschaladati Kotri
erlebt.
"Eine Woche später wurden die Lebensmittellieferungen eingestellt.
Und nochmals eine Woche später kam eines Abends ein rätselhafter Sturm
auf. Er kam brüllend aus den Bergen und fegte durchs Lager. Gegen zehn
Uhr schien eine Bö alles in die Luft zu katapultieren. Als Samir und
Dschaladat aus dem Zelt lugten, erschraken sie. Die Zelte wirbelten
hoch in der Luft. Allein ihr Zelt war stehen geblieben. Sie machten
sich auf die Suche nach den Bewohnern, aber sie fanden niemanden."
Als einziger Überlebender des bereits erwähnten Massakers führt es ihn
in die geheimnisvolle gelbe Stadt der Freudenhäuser, die einerseits
topografisch exakt bestimmt und andererseits eine ungreifbare Fata
Morgana ist. Oberst Samir, der durch die Musik Kotris eine absolute
Wesensveränderung erlebt hat, bringt den Flötenspieler in seine
Geburtsstadt zurück, wo er von diesem vor ein Tribunal gestellt wird,
bei dem alle Opfer ihrer Peiniger anklagen. Das ist ohne Zweifel die
Schlüsselszene in diesem Roman, welche die Frage nach Recht und
Gerechtigkeit kongenial argumentiert auseinandernimmt und einkreist. Die
Geste des Verzeihens ist der Freispruch, das Todesurteil
ist symbolisch für die Vergeltung.
"Dalia versuchte die ganze Zeit, mich in mein Zimmer
zurückzubugsieren. Ich bedankte mich also und zog mich zurück. Dalia
knallte hinter uns die Tür zu. Ihre Augen waren rot vor Wut, sie
konnte kaum atmen. Ich verstand nicht, weshalb sie so wütend war. Ich
hatte ihren Wünschen entsprochen, und auch meine Musik war makellos
gewesen. Sie zischte: 'Du bist ein Idiot. Wo, glaubst du, spielst du?
Mit einem Pariser Orchester? Du spielst in einem Puff in der Wüste.
Was soll diese Musik hier? Willst du, dass dich alle bewundern? Hast
du vergessen, wer du bist, wie du hier gelandet bist, was du tun
musst, damit sie dich nicht finden und töten wie einen Hund? ... Hier
darfst du nicht auffallen! Du musst mir versprechen, nie wieder so zu
spielen. Ich weiß, dass du ein guter Musiker bist. Aber sie, sie
dürfen nicht Wind davon kriegen.'"
In der Wüstenstadt lernt Dschaladat Dalia und den Arzt Musa Babak
kennet, beide ebenso vom Krieg gezeichnete Kurden. Während Dalia
verzweifelt nach ihrem Geliebten sucht, den sie in einem Foltergefängnis
Saddam Husseins vermutet, führt der Kunstliebhaber Musa Babak den
Flötenspieler in sein Kellerlabyrinth, wo er ein Museum der Träume
eingerichtet hat, in dem sich auch ein geheimnisvolles Bild befindet,
das "Die Stadt der weißen Musiker" betitelt ist.
Ali zeichnet diese Stadt als eine, die der Wirklichkeit entrückt ist, zu
der nur eingeweihte Personen Zutritt haben und in der das Diktat der
Zeit abhandengekommen ist. Diese Eingeweihten sind engelsgleiche Untote,
die im Dies- und Jenseits
als Reisende unterwegs sind, die sich der Grenzen des Raumes entledigt
haben.
"Dies ist die Stadt der Schönheit, für die das Leben zu klein und
der Tod zu schwach waren ... Denn dies ist auch eine Stadt ermordeter
Wahrheiten, erstickter Schreie und Klagen, getöteter Reinheit."
Dieser Roman ist ein wunderbares Beispiel für große Literatur, die ohne
jegliche Sentimentalität an die Kraft der Schönheit
glaubt, die mehr über eine ganze Region sagt, als die uns bekannten
Fernsehdokumentationen uns je vermitteln konnten, welche die Augen
öffnet, die wunderbar instrumentiert und ausgehört ist, die sich traut,
eine dramatische Geschichte zu erzählen, die Pathos sinn- und stilvoll
einsetzt, die sich zwischen Welten bewegt und den Leser dabei nie
verliert, die sich selbst hinterfragt und die anklagt, ohne zu
verurteilen. Und das ist, summa summarum, einfach wunderbar.
(Roland Freisitzer; 02/2018)
Bachtyar Ali: "Die Stadt der weißen Musiker"
Aus dem Kurdischen (Sorani) von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich
Müller-Schwefe.
Unionsverlag, 2017. 426 Seiten.
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