José Eduardo Agualusa: "Das Lachen des Geckos"


Auch Geckos sind nur Menschen: Träume und Wirklichkeiten in Angola

"'Ich glaube, das, was ich mache, ist eine entwickelte Form der Literatur', erklärte er. 'Auch ich erfinde Zusammenhänge, entwickle Figuren, doch statt sie zwischen Buchdeckel zu pressen, gebe ich ihnen ein Leben und entlasse sie in die Realität.'"
(S. 68)

Auch die zehn Jahre nach der Erstauflage der gebundenen Version in deutscher Übersetzung erschienene Taschenbuchausgabe trägt beharrlich den befremdlichen Titel "Das Lachen des Geckos", dazu die Großaufnahme eines derartigen Tiers, das für menschliche Augen vielleicht tatsächlich zu grinsen scheint, auf der Vorderseite.
Unergründlich sind die Strategien vieler Verlage, keinesfalls Originaltitel korrekt zu übersetzen und beizubehalten, sondern nicht selten inhaltlich gänzlich verfremdete Titel zu verwenden. Bisweilen wären Begründungen und Erläuterungen der Verlage hochinteressant, weshalb eine so große Bücherzahl in Übersetzungen völlig andere Titel als in den Originalversionen trägt. Es ist doch davon auszugehen, dass Schriftsteller die Titel ihrer Werke nach reiflichen Überlegungen mit Bedacht wählen, und daher nicht einzusehen, überdies schade und manchmal regelrecht irreführend, diese ehrbaren Bemühungen auffallend häufig zunichtegemacht zu sehen.

In der "Zeit" vom 4. September 2015 schrieb Christoph Schröder unter dem ins Schwarze treffenden Titel "Die Blablabla des Blablabla": "(...) Buchtitel unterliegen bestimmten Moden, und die kommen, wie wir wissen, stets in Wellen. Nachdem Daniel Kehlmann im Jahr 2005 mit seinem Roman "Die Vermessung der Welt" einen nicht nur für einen ernsthaften Roman geradezu sensationellen Erfolg gelandet hatte, und das mit einem auf den ersten Blick eher unspektakulären Titel, breitete sich in den deutschen Verlagsprogrammen die Namens-Genitivitis wie eine ansteckende Krankheit aus. 'Die Blabla des Blabla' wurde geradezu verzweifelt ge- und missbraucht, parodiert und persifliert (...)."
Im gegenständlichen Fall rätselt man also, warum der geheimnisvoll klingende "Vergangenheitsverkäufer" im deutschsprachigen Raum unverständlich oder unverkäuflich gewesen wäre? In anderen Ländern war die jeweils korrekte Übersetzung des Titels kein Problem, wie einige Beispiele bezeugen: "De handelaar in verledens" (Niederlande), "Le marchand de passés" (Frankreich), "Il venditore di passati" (Italien).

Nun sind Geckos eine uralte Tiergattung von Kletterkünstlern mit großen Augen und überdies sozusagen selbstreinigenden Fußsohlen, wie neueste Forschungen belegen. Die Literatur hat freilich ihre eigenen "Naturgesetze", und so kommt es, dass in Agualusas Roman tatsächlich ein Gecko, der die Sprache der Menschen zwar verstehen, allerdings naturgemäß nicht selbst benutzen kann, als Icherzähler auftritt; ein ebenso hübscher wie praktischer Einfall, denn der schuppige Zeitzeuge kann sich unauffälliger anpirschen als ein homo sapiens sapiens und meistens unbeachtet lauschen und beobachten. Wird er doch entdeckt: Wer fände einen Gecko verdächtig? Eben.
Eulálio, wie der Gecko bald genannt wird, steckt seit fast 15 Jahren in dieser eher nachtaktiven Wesenheit, vorher war er beinahe hundert Jahre lang ein Mann - und ist offenbar nur einer von vielen, die ebendieses Schicksal teilen. In seinem vergangenen Leben als Mensch war er Bibliothekar, und nicht nur die Liebe zur Lektüre ist ihm aus dieser Zeit geblieben, so beschreibt er auch das seinerzeit schwierige Verhältnis zu Frauen und sein Dasein als biederes Muttersöhnchen.

Der am 13. Dezember 1960 im angolanischen Huambo geborene José Eduardo Agualusa studierte in Lissabon und ging 1989 zurück in sein Heimatland, dem er Ende der 1990er-Jahre erneut den Rücken kehrte, um sich im brasilianischen Rio de Janeiro niederzulassen. Längst gehört er zu den bekanntesten afrikanischen Gegenwartsautoren der portugiesischsprachigen Literaturszene. Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist abwechselnd in Portugal, Angola und Brasilien.

Im Jahr 2017 erhielt er für seinen Roman "Teoria Geral do Esquecimento" ("Eine allgemeine Theorie des Vergessens") den "International DUBLIN Literary Award". Seiner Dankesrede, am 21. Juni 2017 von Daniel Hahn, Agualusas Übersetzer ins Englische, vorgelesen, entstammt die folgende Passage:
"Agualusa is a word that has almost completely disappeared from the Portuguese language. As a surname, it's rarer still. Old sailors used to use the word to describe a sea that was calm and luminous. I imagine it started out as some sailor's nickname - a distant Portuguese grandfather, no doubt.
I believe certain names impose their destinies. Perhaps that's why, despite having been born in Huambo, a city in Angola's central plateau, almost three hundred kilometres from the coast and at an altitude of two thousand metres, I've always felt drawn to the sea."

Sinngemäß übersetzt also: "Agualusa ist ein beinahe völlig aus der portugiesischen Sprache verschwundenes Wort. Als Nachname ist es noch seltener. Alte Seefahrer pflegten das Wort zu gebrauchen, um ein Meer zu beschreiben, das ruhig und hell war. Ich stelle mir vor, dass es als Spitzname eines Seefahrers aufkam - zweifellos ein entfernter portugiesischer Großvater. Ich glaube, gewisse Namen erzwingen ihre Bestimmungen. Vielleicht habe ich mich deshalb, obwohl ich in Huambo geboren wurde, einer Stadt auf Angolas Zentralplateau, fast dreihundert Kilometer von der Küste entfernt und zweitausend Meter hoch gelegen, immer zum Meer hingezogen gefühlt."

Angola, mit der rasant wuchernden Hauptstadt Luanda, liegt an der südlichen Westküste Afrikas und somit in der wechselfeuchten tropischen Klimazone. Ende des 15. Jahrhunderts eroberten Portugiesen das Gebiet, im Jahr 1575 wurde die portugiesische Kolonie Angola gegründet. Nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen ist Angola seit dem 11. November 1975 ein unabhängiger Staat. Zurückgeblieben sind zahllose Landminen, kleinere Konflikte und - zumindest in José Eduardo Agualusas Roman - Menschen, die ihre persönliche Vergangenheit auf ebenso schmeichelhafte wie zukunftstaugliche Weise verändert sehen wollen.
Genau an diesem Punkt setzt der Roman an: "O Vendedor de Passados" wurde im Original anno 2004 in Lissabon publiziert.
Der Gecko-Icherzähler lebt in trauter Zweisamkeit unter einem Dach mit dem Albino Félix Ventura, dessen Name wörtlich zweifach Glück bezeichnet, der quasi auf Bestellung schillernde Vergangenheiten und Familiengeschichten für seine überwiegend betuchten Kunden erfindet und die passenden Fotos sowie Dokumente anfertigt - und zwar perfekt mit allem Drum und Dran. Dieser Albino namens Félix war einst ein Findelkind, ist bei einem Antiquar aufgewachsen und lebt nach wie vor im selben Haus voller Bücher und Kunstgegenstände.

Eines Nachts erscheint ein geheimnisvoller Fremder, angeblich Kriegsfotograf, der mehr will als eine beschönigte Vergangenheit, er wünscht eine völlig neue Identität, und bietet Félix zehntausend US-Dollar dafür. Kurzum, der Fremde wird mithilfe von Dokumenten, die Félix herstellt und besorgt, zu José Buchmann, seines Zeichens Nachfahre von Buren, und verkehrt fortan häufig in Venturas Haus.
"Wenn ich nun auf die Vergangenheit sehe, sie von hier aus wie auf einer riesigen Leinwand vor meinen Augen betrachte, sehe ich, dass auch José Buchmann nicht wirklich José Buchmann ist, sondern ein Fremder, der José Buchmann nachahmt. Doch wenn ich die Augen vor dem Gestern verschließe, ihn also erst jetzt sehe, als wäre ich ihm nie zuvor begegnet, gibt es keinen Grund, nicht zu glauben, dass dieser Mann José Buchmann ist, schon sein ganzes Leben lang." (S. 62)

Besonders erwähnenswert sind die Träume des Geckos, der offenbar sowohl mit Félix Ventura als auch mit José Buchmann in diesem Bewusstseinszustand als Mensch sprechen kann, überdies scheinen Félix und Eulálio einander gelegentlich telepathisch verbunden zu sein, mit großem Interesse hört der Gecko den Erzählungen der Männer zu, und manchmal entringt sich seinem Maul etwas, das wie Gelächter klingt.
Es geht oft um Bücher, um Sprache und Wörter, Félix redet mit dem Gecko bzw. sieht ihn als Ansprechstelle für seine Monologe, und Félix träumt von Eulálio, wie dieser von ihm. Abwechselnde Unterhaltungen des Geckos mit Ventura und Buchmann in den Träumen des Reinkarnierten fügen gewisse Mosaiksteinchen zusammen und beleuchten jene Aspekte der (scheinbaren?) Wirklichkeit, die im Wachzustand ausgeklammert werden.

Ângela Lúcia, seit kurzem Félix' Freundin, eine Fotografin mit Brandmalen, die sie jedoch geschickt vor Félix zu verbergen weiß, bereichert den Männerhaushalt bisweilen mit weiblichen Sichtweisen. So vergehen die Tage und Nächte, Félix verfasst für einen Minister nach einer "neuen Vergangenheit" auch noch "dessen" Memoiren für ein gewagtes Buchprojekt mit dem Titel "Das wahre Leben eines Kämpfers", wobei biografische Fakten selbstverständlich karrieretauglich korrigiert und fantasiereich umgedichtet werden.

Der auf den Geschmack gekommene José Buchmann hingegen betreibt angeblich in New York und Kapstadt auf eigene Faust seine Spurensuche innerhalb der von Félix entworfenen Familiengeschichte und wird allem Anschein nach überraschend sogar fündig.
Eines Tages bringt Buchmann jedoch den seit längerer Zeit mit dem Fotoapparat verfolgten Edmundo Barata dos Reis, einen ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der nun als scheinbar verrückter Stadtstreicher sein Unwesen treibt, mit zu Félix Ventura. Der eingefleischte Kommunist aus dem Untergrund kann mit einer Riesenüberraschung aufwarten; Stichwort: Doppelgänger!
Und es soll nicht bei dieser einen verunsichernden Überraschung bleiben, denn Folter, Verrat sowie ein Mord im Jahr 1977 lassen die aktuellen Begegnungen unter anderen Vorzeichen und keineswegs zufällig erscheinen.
So kommt es, dass in Venturas Haus eine entscheidende Zusammenkunft stattfindet, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit zurückreichen. Überfällige Enttarnungen und ein Todesschuss beenden den Spuk einer Familienzusammenführung mit einer entsetzlichen Leerstelle ...

Kleine Seitenhiebe auf die Gepflogenheiten des internationalen Literaturgeschäfts wie z.B. dieser: "Ein missmutiger Zeitgenosse und beleidigter Intellektueller, dessen Karriere im Ausland sich darauf gründete, dass er den Europäern die Schrecken seines Heimatlandes verkaufte. Elend ist ungeheuer erfolgreich in reichen Ländern." (S. 67) sorgen jedoch auch für heitere Momente der Auflockerung.

Die in diesem Roman angerissenen Themen (darunter Seelenwanderung und Traumverbindungen), Figuren und Geschichten hätten durchaus mehr hergegeben, doch offenbar wollte der Autor nicht weiter in die Tiefe vordringen, weshalb "Das Lachen des Geckos" bei aller Wertschätzung für einzelne durchaus gelungene Szenen und originelle Motive in Anbetracht der Kürze tendenziell unvollendet wirkt. Einige vielversprechende Ansätze sind erkennbar, doch insgesamt bleibt der schnell gelesene, dabei keineswegs harmlose Roman ein wenig hinter seinen verheißungsvollen Möglichkeiten zurück.

(kre; 07/2018)


José Eduardo Agualusa: "Das Lachen des Geckos"
(Originaltitel "O Vendedor de Passados")
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Unionsverlag, 2018. 186 Seiten.
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Zur Netzpräsenz des Autors: http://www.agualusa.pt/
Zur Netzpräsenz des Übersetzers: http://www.michael-kegler.de/

Noch ein Buchtipp:

António Lobo Antunes: "Leben, auf Papier beschrieben. Briefe aus dem Krieg"

"Das Buch der Liebe unserer Eltern." Maria José und Joana Lobo Antunes
Fast täglich hat António Lobo Antunes seiner Frau geschrieben, als er in den 1970er-Jahren in Angola stationiert war. Mit der Veröffentlichung dieser Briefe erfüllen Lobo Antunes' Töchter den letzten Willen ihrer Mutter und machen damit ein einzigartiges, sehr persönliches Zeitdokument zugänglich. Lobo Antunes' Nachrichten aus dem Kolonialkrieg, illustriert mit Faksimiles, Fotos aus Angola und von der Familie, sind zugleich Tagebuch, Literatur, Kriegsbericht und Geschichte einer Liebe.
Der portugiesische Kolonialkrieg in Angola, den Lobo Antunes gut zwei Jahre lang hautnah miterlebte, war, wie für viele Andere, auch für ihn eine traumatische Erfahrung. Sein Leben lang hat er sich damit auseinandergesetzt, seine Werke sind davon geprägt. In diesen Briefen lesen wir jedoch zum ersten Mal seine persönlichen Geschichten aus jener Zeit, unverstellt, unzensiert, ganz privat.
Von Januar 1971 bis März 1973 war Lobo Antunes als Militärarzt in Angola, und bis auf drei längere Unterbrechungen, in denen er mit seiner Familie zusammen war, hat er fast täglich an seine damalige Frau geschrieben, die er 1966 kennenlernte und 1970 heiratete. 28 Jahre war er alt, isoliert von seiner Heimat, seiner Liebe, seinen Freunden, und er schrieb, ohne jemals daran zu denken, dass diese Briefe einmal jemand anders lesen sollte als sie. Er schmiedet Zukunftspläne, spricht über familiäre Ereignisse, erklärt berückend und wortreich seine Liebe oder schickt Wunschlisten für Tabak, Essen und Bücher. Er zitiert aus der Literatur, schickt Gedichte, diskutiert Theaterstücke. Und er erzählt von der Bevölkerung in Angola, von seiner Arbeit als Arzt, vom täglichen Horror des Krieges.
Lobo Antunes' Töchter Maria José und Joana haben mit diesem Buch den Wunsch ihrer Mutter erfüllt, nach ihrem Tod die Briefe ihres Mannes an sie zu veröffentlichen. Sie nennen es "Das Buch der Liebe unserer Eltern" und stellen jedem anheim, es für sich selbst anders zu deuten. Eines ist gewiss: Es ist ein einzigartiges Dokument aus dem Leben eines grandiosen Schriftstellers. (Luchterhand)
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