Melinda Nadj Abonji: "Schildkrötensoldat"
Requiem
für einen Unangepassten
Sieben Jahre hat es gedauert, bis die 1968 in Becsej, Vojvodina
geborene Schweizer Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji nach ihrem
Roman "Tauben fliegen auf", der anno 2010 den "Deutschen Buchpreis"
gewinnen konnte, einen weiteren Roman, "Schildkrötensoldat",
veröffentlicht hat. Diesem beeindruckenden Roman merkt man an,
dass er das Produkt einer sehr eingehenden Beschäftigung mit
dem Stoff ist, fein ausgearbeitet und regelrecht zurechtgerungen zu
sein scheint.
Der Hauptprotagonist dieses Romans ist Zoltán, oder auch
Zoli oder Zolizoli genannt, der Sohn eines Säufers und einer
Dorfhure. Als Kind fällt er vom Motorrad seines Vaters und ist
seitdem anders als die anderen Kinder. Er ist ein verträumter,
eigenartiger, wunderlicher Junge, der beispielsweise die Blumen
im
Garten liebt und sich ebenfalls von ihnen geliebt fühlt.
Seltsame Wörter tummeln sich in seinem Kopf und fliehen aus
seinem Mund, er ist einer, der nicht verstehen kann, warum er von allen
als Last empfunden wird. Warum die Menschen nichts mit seinem
Anderssein anfangen können, warum sie mit seiner Liebe nichts
anfangen können. Er ahnt natürlich auch nicht, dass
er als ungarischstämmiger Roma in Serbien ganz unten, oder gar
noch danach, in der Rangordnung steht. Seine Sicht der Welt kommt wie
ein traumartiger Monolog, als Bewusstseinsstrom der anderen Art, daher,
und weil es so aus ihm heraussprudelt, gibt es auch am
grammatikalischen Ende seiner Sätze keine Punkte. Da, wo kein
Ende ist, kann auch kein Punkt sein. Das ist, nach einer kleinen
Eingewöhnungsphase, sehr überzeugend und frisch. Er
sieht das Schöne und das Hässliche und ist ein
wundervoll origineller Beobachter.
"Nach den Schießübungen, nach den
schlaflosen Nächten waren meine Zähne Stricknadeln,
aber nicht die Stricknadeln meiner Großmutter, ich habe
geklappert und nichts gestrickt, ganz bestimmt habe ich nichts
gestrickt, dabei war ich so nackt wie eine Schnecke, ich habe
geklappert und gejammert, gewimmert, hör auf, so
Jenö, sonst kriegen wir alle was aufgebrummt, und dann bist du
am Arsch"
Als er volljährig wird, schieben ihn seiner Erzeuger, den
Begriff Eltern kann man hier kaum verwenden, ab. Und nichts ist
leichter, als in die Armee. So wird Zoli Soldat. Die Armee des Staates,
der gerade dabei ist, zu zerfallen, kann sowieso jeden gebrauchen.
Nachbarn zum Töten gibt es ja ohnehin genug. In der Armee soll
er zu einem richtigen Mann gemacht werden, physisch fit und geistig
hörig. Dass er in die Hände von sadistischen
Vorgesetzten kommt, macht seine Lage nicht besser. Sein einziger Freund
Jenö versucht, ihn möglichst gut zu
schützen, muss aber selbst mit seinem Leben dafür
bezahlen. Natürlich kann das auch für Zoli nicht gut
ausgehen, wie der Leser rasch ahnt.
Melinda Nadj Abonji nähert sich der Geschichte auch durch eine
zweite Erzählstimme. Es ist Anna, Zolis Cousine und ehemalige
Vertraute Zolis. Sie hatte, ähnlich wie die Autorin selbst,
das Glück, dem Elend zu entkommen und lebt in der Schweiz.
Dass sie das psychisch nicht so problemlos verkraftet hat, ist die
andere Seite der Medaille. Nachdem sich Zolis Eltern der reichen
Schweizer Verwandten erinnert haben, macht sie sich auf dem Weg
zurück, in erster Linie, um zu verstehen. Um Zolis Existenz
nachzugehen, sie aufzuzeichnen. Helfen kann sie Zoli nicht mehr, dazu
ist es mittlerweile zu spät. Was sie dabei erlebt, ist
zutiefst bedrückend, niederschmetternd und zeigt, global
ausgelegt, den Missstand unserer kalten Welt, in der Individuen, die
nicht den allgemein gültigen Benimmregeln entsprechen,
ausgemustert, vergessen und verdrängt werden. Es ist eine
Gleichgültigkeit, die keinen Leser kalt lassen kann. Ohne dass
die Autorin dabei auch nur annähernd pathetisch schreiben
würde.
"Ich erkannte, was ich erst viel später formulieren
konnte, dass alles in Zolis Augen hineinfloss, ungehindert,
ungefiltert. Er nahm alles auf, was da war, und dazu gehört
auch das Verborgene, das, was im Verborgenen bleiben sollte. Sein
Blick
wusste etwas, was wir anderen nicht wussten. Und dann der Satz von
Zorka oder Lajos: Schau dir diese Augen an, so schaut doch ein Gott
oder ein Teufel!"
Es geht um Macht,
Unterwerfung, brutale Zurichtung und Disziplinierung
durch die Armee. Die Unmöglichkeit, dieser Auslieferung zu
entkommen. Die Szenen dieser Schikanen, die über jegliches
Maß an Erträglichem weit hinausreichen, werden von
Melinda Nadj Abonji auf beeindruckende Art und Weise geschildert,
sodass man den Rückzug in Zolis Schneckenhaus, der nur
kurzfristige Erleichterung bringt, mehr als versteht. Der
Schildkrötensoldat wird so zu einem sanften,
feinfühligen Gegenentwurf zur Stumpfsinnigkeit des von Befehl
und Gehorsam geprägten Armeealltags. Oder im
übertragenen Sinn ist Zoli ein Sinnbild des an der Welt
verzweifelnden Individuums.
"Schildkrötensoldat" ist ein in jeder Hinsicht beeindruckender
Roman, der lange nach Beendung der Lektüre nachhallt. Ein
Text, der weit über den Zeitrahmen und den konkreten
Begebenheiten dieses Romans gelesen werden kann und ein beeindruckendes
Beispiel dafür, was großartige Literatur zu schaffen
und zu erreichen vermag.
(Roland Freisitzer; 04/2018)
Melinda
Nadj Abonji: "Schildkrötensoldat"
Suhrkamp, 2017. 173 Seiten.
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