Edgar Wolfrum: "Welt im Zwiespalt"

Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts


Ein Jahrhundert neu und umfassend interpretiert

Wenn heute lebende Personen davon sprechen, dass früher alles besser gewesen sei, meinen sie zwangsläufig das vor 17 Jahren zu Ende gegangene 20. Jahrhundert - gleichzeitig wird es mit Recht das blutigste Jahrhundert der Menschheit genannt.

Der Heidelberger Zeitgeschichtler Edgar Wolfrum, geboren 1960, wagt auf knapp 400 Textseiten einen umfassenderen Blick, indem er der politischen Geschichte auch kultur- und ideengeschichtliche Abschnitte zur Seite stellt. Alle 16 Kapitel tragen Gegensätze im Namen und vermitteln anschaulich den titelgebenden Zwiespalt des vergangenen Jahrhunderts: "Demokratie und Diktatur. Jahrhundert ohne Maß und Mitte", "Naturbeherrschung und Umweltkatastrophen. Eine schreckliche Schönheit", "Genozide und Völkermordkonvention. Nie wieder Auschwitz", "Säkularisierung und Rückkehr der Religionen. Existenzielle Konfrontationen", "Hunger und Wohlstand. Unterernährung kontra Diätwahn" usw.

Die zitierten Gegensätze dienen als Sichtachsen, sind nur scheinbar binäre Pole. Sie interagieren auf vielfältige Weise, sind nicht kontra-, sondern koproduktiv. Denn es gäbe z.B. keine Völkermordkonvention ohne Auschwitz, keine Impfungen ohne den Anlassfall von Epidemien. Das Schlüsseljahr 1917 (Oktoberrevolution in Russland und Kriegseintritt der USA) und das Ende des Ersten Weltkriegs sind sowohl Angelpunkte für autoritäre und totalitäre Regimes als auch für die Entstehung von Demokratien in vielen Ländern Europas - trotz späterer Unterdrückung, Aufhebung und Vernichtung bürgerlicher Rechte in Deutschland wie in Österreich.

Der Titelzusatz "eine andere Geschichte" lässt vermuten, dass Geschichte neu und im Gegensatz zur bisherigen Geschichtsschreibung verfasst wird. Vielmehr versucht der Autor jedoch, historisches Wissen neu zu bündeln, bietet einen geordneten Überblick über ein Jahrhundert an. Daher ist "Die Welt im Zwiespalt" auch keine Weltgeschichte, die sich darin erschöpft, in Auswahl darzustellen, was wann und wo geschah. Zahlreiche historische Daten werden wie nebenbei erwähnt und als bekannt vorausgesetzt; der Autor stellt die mehr oder weniger geläufigen Fakten fachkundig zusammen und führt zielstrebig hin zu Sinnzusammenhängen. Dabei ist er bewusst eurozentrisch und oft auch deutschlandlastig: Schließlich war sein Heimatland im politisch-militärischen Geschehen und auch in der Wissens- und Wirtschaftsgeschichte, im Negativen wie im Positiven, zwischen 1901 und 2000 führend. Ob allerdings Österreich-Ungarn zu den "Ränder[n] der europäischen Welt" (Seite 140) gehörte, bleibt ein hinterfragenswertes Detail.

Manchmal würde man sich weitere Fußnoten und Erklärungen wünschen, z.B. wenn der Autor feststellt, dass es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa - konkret wieder "an den Rändern Europas" - zwölf Kriege gegeben habe, in Lateinamerika 29 (Seite 24f.). Welche waren das, fragt man sich, um aber sofort von einer überaus klaren Sprache und in schlüssigen Argumentationen zu den Hauptaussagen des Buches geleitet zu werden, dazu, dass Geschichte nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen ist, sie immer auch "die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem" (Seite 10) ist.

Fundierte und zum Weiter-, Nach- und Umdenken anregende Geschichtslektüre!

(Wolfgang Moser; 03/2017)


Edgar Wolfrum: "Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts"
Klett-Cotta, 2017. 447 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, 16 Seiten Tafelteil.
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