Alissa Walser: "Eindeutiger Versuch einer Verführung"


Geschichten über Sinnkrisen, Beziehungen und das grundsätzliche Problem des Frauseins

Alissa Walser, die anfangs unter dem Pseudonym Fanny Gold publizierte, erhielt bereits etliche Auszeichnungen, z.B. anno 1992 für ihre Erzählung "Geschenkt", die eine außergewöhnlich enge Vater-Tochter-Beziehung thematisiert, den "Ingeborg-Bachmann-Preis" sowie den "Bettina-von-Arnim-Preis" und im Jahr 2010 den "Spycher: Literaturpreis Leuk" für ihr Romandebüt "Am Anfang war die Nacht Musik". Übrigens wurde damals auch der ungarische Autor László Krasznahorkai (geboren am 5. Jänner 1954) mit diesem Preis ausgezeichnet, der erstaunlicherweise in einem fünfjährigen Gastrecht in der Walliser Gemeinde Leuk besteht.

Die Autorin, Malerin und Übersetzerin (z.B. der Tagebücher von Sylvia Plath und der Theaterstücke von bspw. Joyce Carol Oates, Edward Albee, Marsha Norman und Christopher Hampton) Alissa Walser ist eine von vier Töchtern des Schriftstellers Martin Walser. Sie wurde am 24. Jänner 1961 in Friedrichshafen geboren, studierte in New York und Wien Malerei und gestaltete auch einige Buchumschläge von Werken ihres Vaters.

Der schmale Band "Eindeutiger Versuch einer Verführung" beinhaltet 57 Kurz- und Kürzestgeschichten, die jeweils Momente und Szenen aus weiblichen Perspektiven schildern. Geistesgegenwärtig und sprachlich treffsicher werden Beziehungssituationen, Gedankenverläufe, Gefühlslagen und Erlebnisse festgehalten, wobei es den Protagonistinnen nicht selten auffallend an Selbstironie sowie wagemutiger Erkenntnislust mangelt, sodass sich ein lapidar formuliertes vielstimmiges Abbild der Jetztzeit ergibt.
Sinnsuche, Unsicherheiten, Schwächen, Hoffnungen, Ängste und Sorgen sind quasi die Slalomstangen auf jenen kulturkreisbezogenen Pisten, die Alissa Walser kenntnisreich präpariert hat. Manche Protagonistinnen erreichen ihre Ziele, einigen ist der vorgegebene Kurs zu schwierig. Geschlechterklischees werden nicht ausgespart, auch kommen Kommunikationsmissgeschicke und Sinnkrisen nicht zu kurz.

Die ausgefranste Frauenrolle als ewiger Stolperstein, als immerwährendes Hindernis, ein zufriedenstellendes Leben zu führen etwa? Das Frauendasein als "Teufelskreis"? Nun ja, nicht selten steht sich die jeweilige Frau selbst am meisten im Weg, die vorgestellten Damen verbiegen sich, verschweigen zu viel Wichtiges, verkünden zu viel Unwichtiges.
Vielleicht ist es Alissa Walsers Ansinnen, gewissen Leserinnen die Augen, Ohren und Münder für bislang ausgeblendete Wirklichkeiten zu öffnen, indem sie ihnen kommentarlos Spiegel vorhält. Allerdings finden sich auch die Herren der Schöpfung, so sie denn in eine Erzählung Eingang finden, nicht gerade schmeichelhaft abgebildet, als Beispiel sei die nebenstehende Leseprobe angeführt.

 

Zum x-ten Mal

Sie kennt seinen Körper, weiß, wie er riecht, wie er aussieht, sich anfühlt und wie er atmet, wenn er auf dem Rücken schläft, wenn er sich zu ihr dreht. Wie er atmet, während der Träume, von denen sie nichts wissen will. Seit seinem Zahnimplantat hat sie ihn nicht mehr richtig geküsst. Also geknutscht. Wie Mädchen Jungs küssen. Mit Knutschflecken als Trophäen, die sie im Spiegel bestaunte. Und der Zigarette danach. Zuletzt wartete sie nur noch kurz auf den Schlaf, den süßen, der ihn auf Anhieb fand. Ein Schlaf ohne Vorspiel, der postorgiastisch heranrauschte: eine Kutsche aus weißen Kranichfedern, die ihn aufnahm wie ein verwöhntes Einzelkind. Und sie blieb liegen, versaut, verwaist, verwitwet. Und voller Neid.
(S. 93)

Alissa Walsers bemerkenswerte Beobachtungsgabe ermöglicht es, Besonderheiten von Zeitgenossen auszuloten, sich in Gedanken, Worten wie auch Verhaltensweisen bemerkbar machende Schwächen zu skizzieren und angemessen kurz und bündig festzuhalten. Die Autorin erschafft einprägsame Szenen, deren Vorgeschichten und Nachhall sich der Leser jeweils selbst auszumalen eingeladen ist. Sei es ein ungewöhnlich verlaufender Kinobesuch, seien es Überlegungen zum Leben abseits der Großstädte, geschilderte Einkaufserlebnisse oder Streitabläufe. Biografische Fehlschläge, Partnerbörsen im Netz, Spielfilme, Trampolinspringen, Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen, Trennungen und Familienabgründe liefern ebenso Material wie Warteschlangen, Träume, Geld, Freundinnen, Taxifahrer, Schreibkurse, Badewannen und Haustiere.

Ihrem Buch hat Alissa Walser folgenden Satz aus Odo Marquards (1928-2015) anno 2000 im Reclam Verlag erschienener "Philosophie des Stattdessen" vorangestellt: "Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird die Erzählung."
In diesem Sinn handelt es sich bei ihren Erzählungen um tatsächlich unvermeidliche. Lassen Sie sich unzweideutig verführen!

(kre; 02/2017)


Alissa Walser: "Eindeutiger Versuch einer Verführung"
Hanser, 2017. 160 Seiten.
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Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):

"Am Anfang war die Nacht Musik"

Wien, 1777. Franz Anton Mesmer, der wohl berühmteste Arzt seiner Zeit, soll das Wunderkind Maria Theresia Paradis heilen, eine blinde Pianistin und Sängerin. In ihrer hochmusikalischen Sprache nimmt Alissa Walser uns mit auf eine einzigartige literarische Reise. Ein Roman von bestrickender Schönheit über Krankheit und Gesundheit, über Musik und Wissenschaft, über die fünf Sinne, über Männer und Frauen oder ganz einfach über das Menschsein. (Piper)
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"Immer ich"
Ob vier Menschen in Brooklyn versuchen, Weihnachten mit einem verstimmten Klavier zu feiern, oder eine Frau den Mann, den sie begehrt, ins Pornokino schickt - Alissa Walser ist eine Meisterin der Kurzform, der Tiefenvirtuosität, der Raffinesse beim Ausleuchten des Alltäglichen, das sie zu Sätzen, zu Texten und Bildern verwebt, die nicht blenden, sondern den Blick erhellen. (Piper)
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"Von den Tieren im Notieren"
Diese Texte über Kunst und Welt verraten Alissa Walsers genauen, vorsichtig zuerst den eigenen Horizont öffnenden Blick. Unaufdringlich, manchmal selbstironisch, vor allem aber aufrichtig, erzählt sie von den Bedingungen ihres Schreibens. Doch dieser Band ist mehr als Selbstreflektion. Die Autorin äußert sich auch zu den Werken Anderer; sie beobachtet die Natur, die Gesellschaft, die Menschen, die sie umgeben; sie verweist auf entlegene Zusammenhänge, sucht und findet in jedem der vierundzwanzig hier veröffentlichten Texte aufs Neue das Außerordentliche im abgemessenen Lauf der Dinge. (Piper)
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Noch ein Buchtipp:

Beatrix Langner: "Die 7 größten Irrtümer über Frauen, die denken"

Um sie wurden Kriege geführt, sie wurden besungen, bedichtet, für sie stürzt man sich in den Bankrott oder in den Tod: Seit jeher beherrschen Frauen die Gedankenwelt der Männer. Doch sobald sie selbst dachten, wurden sie der Welt verwiesen. Trotz Jahrzehnten der Emanzipation ist heute kaum etwas provozierender als Frauen, die denken und dieses Denken ganz unverblümt in Einfluss, gar Macht ummünzen wollen. Noch immer begegnet man denkenden Frauen verdammend oder idealisierend, immer aber exotisierend - oder sie gelten gleich als geschlechtslose Wesen.
In ihrer scharfzüngigen kulturgeschichtlichen Tour d' Horizon erzählt Beatrix Langner die Geschichte der Aussperrung weiblicher Geisteskraft. Sie zeigt dabei aber auch, dass sich Frauen seit Jahr und Tag mit den heute bekannten - ausschließlich männlichen - Denkern messen konnten, und stellt die unbequeme Frage, warum sie sich immer wieder mit der Rolle als Heilige, Muse oder Hure begnügten, sodass heute wie eh und je die Meinung herrscht: Männer schaffen Werke, Frauen arbeiten an sich. (Matthes & Seitz)
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