Martin Walser: "Statt etwas oder Der letzte Rank"
Mit allen Walsern
gewaschen? Unbedingt und zweifellos!
Ein leerer Bilderrahmen ("statt etwas"?) ziert den Einband des neuesten
Streichs des äußerst produktiven Autors Martin Walser, Jahrgang 1927.
Vom Verlag hymnisch als "Der Höhepunkt in Martin Walsers Alterswerk
- ein neuer Roman als Summe und Bilanz" bezeichnet, liegt ein mit
ebensoviel Humor wie Tiefgang angereichertes Werk vor, das in
zahlreichen Episoden Bonmots zuhauf, anregende Gedankensplitter und
kokette Einsichten zum Thema Leben bietet; ein überwiegend aus knappen,
treffsicheren Sätzen gesponnenes Kunstwerk.
Kann es sich hierbei überhaupt um einen Roman handeln? Freilich, denn
laut "Duden" ist ein Roman eine "literarische Gattung erzählender
Prosa, in der (in weit ausgesponnenen Zusammenhängen) das Schicksal
eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen (in der
Auseinandersetzung mit der Umwelt) geschildert wird".
Und fürwahr, Martin Walser schildert das Schicksal eines Einzelnen in
weit ausgesponnenen Zusammenhängen in der Auseinandersetzung mit der
Umwelt vergnügt und in durch und durch taufrischer Sprache. Der
Schriftsteller hat Erlebnisse, Gedanken und Träume kompakt
zusammengefasst und gekonnt aufbereitet.
"Es wird doch wohl auf dem Papier etwas anderes passieren dürfen
als in der Wirklichkeit." (S. 56)
"Mir geht es ein bisschen zu
gut. |
Ein männliches Ich, dessen genaue Identität offenbar nicht von Belang ist, (der Leser ahnt selbstverständlich, wer wohl hauptsächlich dahintersteckt), das sich schonungslos preisgibt, mit allen Höhen und Tiefen, Eitelkeiten und Schwächen, bürstet sein bisheriges Leben gegen den Strich, durchleuchtet Niederlagen ebenso wie Erfolge, geht Freundschaften und Lieblingsfeindschaften sowie Peinlichkeiten und Enttäuschungen souverän auf den Grund und stellt sich bisweilen an den Pranger, durchlebt erneut als Schlüsselszenen empfundene Momente und verteilt gekonnt liebevolle Seitenhiebe, sodass man den Erzähler schon seiner selbstironischen Ehrlichkeit und der unterhaltsamen Selbstentblößungen wegen während der Lektüre geradezu ins Herz schließen muss. |
Es geht in 52 teils sehr
kurzen, teils längeren Kapiteln um absichtsvolle Sprache und
Geschwätzigkeit, um Mut und Feigheit, Liebe und Hass, Gott, Gewissen und
Gefühle, Moral und Konventionen, Erwartungshaltungen und Sehnsüchte,
Ängste und Sorgen, Ausgelebtes und Unterdrücktes, Barmherzigkeit und
Überwindung von Hindernissen, um genaue Beobachtung und Analyse.
Man schwelgt mit Martin Walsers Erzähler genießerisch in
fremdschämtauglichen Augenblicken, leidet angesichts der
Zeitungerechtigkeit und der Charaktermängel mit ihm, entdeckt kuriose
Daseinswinkel und flaniert an seiner Seite durch wundersame Kulissen des
Wachens und des Schlafens. Einige Kapitel des "Selbstgesprächs" weisen
märchenhaften Charakter auf, andere wiederum halten vergangene
Wirklichkeiten fest.
Beispielsweise stattet er einem berüchtigten Kritiker
zur Geisterstunde einen Besuch in Begleitung von Kafkas imaginierter
Schwester Wilhelma ab, einmal beobachtet er vielleicht Jean-Paul
Sartre in einem kleinen Wartesaal auf einem Bahnsteig in Utrecht
und kämpft dabei gegen überwältigende Müdigkeit. Ein Andermal erlebt er
eine ihn geradezu berauschende Gehsicherheit gepaart mit
Staatsangehörigkeitsgefühl mit jeder Faser seines Körpers, einmal wird
er aufgrund einer Verwechslung für einen gewissen Ferdinand gehalten,
dessen Rolle er übermütig spielt, bis ihm das Ganze selbst unheimlich
wird, einmal ergibt sich eine erotische Begegnung in einem
Krankenhausbett mit der von der Kritik als Pornoschriftstellerin
verunglimpften Autorin Carla, die einen prächtigen Garten mit ganz
besonderen Blumenbeeten hegt, auch wird ein Friedensvertrag mit dem
Erzfeind (symbiotische Rivalität?) unterzeichnet, im Hintergrund
existiert offenbar eine ebenso tatkräftige wie verständnisvolle Frau.
Der Erzähler fungiert auch als Kurator einer Ausstellung mit dem Titel "Einsamkeit,
eine europäische Erfindung", in deren Vorfeld er an "Viereckigkeit"
laboriert und zeitweilig schrumpft, was ihn naturgemäß gegen Franz
Kafka aufbringt, er erlebt eine Hotelnacht voller unanständiger
Wörter mit einem Todesfall samt gerichtlichem Nachspiel, und er muss
eine Gerichtsverhandlung wegen behaupteter öffentlicher Schmähung eines
Staatssekretärs über sich ergehen lassen, was das Ende einer
langjährigen Freundschaft bedeutet ...
Wie schon das Sprichwort besagt, liegt in der Kürze die Würze.
Martin Walser ist ein Meister der Verknappung, beispielsweise wird ein
Beziehungsmuster kurz und bündig folgendermaßen umrissen: "Die Frau
hieß Sowieso, der Mann Erstrecht. Sie hatte mehr Haare als nötig. Er
weniger als gut. Sie waren zwei, die eins werden wollten. Ohne Nähe
war nichts. (...)" (S. 64)
Martin Walsers Roman ist auch ein famoses Plädoyer für Gedankenfreiheit,
die sich nicht länger dem Zeitgeist oder freiwilliger Selbstzensur
unterwirft. Wer man ist, was man gedacht, gesagt, getan oder unterlassen
hat, alles prägt den Lebenslauf. Und René Descartes' Satz "Ich
denke, also bin ich" erfährt zahlreiche Variationen, Walsers
zwischen Größenwahn und Demut pendelnder Erzähler trotzt auch
Widrigkeiten Sinnstiftendes ab.
Voraussetzung für so einen Text sind eine gewisse Nonchalance und ein
sich verjüngender Geist, der es gelernt hat, sich über sein altes Selbst
lustig zu machen und dabei weder an Pathos noch an Poesie eingebüßt hat.
Vielleicht kennen Sie, werter Leser, "Bernd das Brot"? Es handelt sich
um eine Figur, die in Endlosschleife das Nachtprogramm des
Fernsehsenders "KIKA" bestreiten muss. Bernd ist ein regelmäßig
deprimiertes, dennoch zu Selbstironie neigendes (völlig zu Recht)
misstrauisches Kastenbrot mit viel zu kurzen Armen, dessen größte
Passion im Anstarren der heimischen Raufasertapete besteht.
Gut zu wissen, dass der leidgeprüfte Bernd nun einen zeitweiligen
Schicksalsgenossen oder gar Teilzeitseelenverwandten in Martin Walsers
Erzähler hatte, der lange Zeit seine leere, musterlose Wand als
Kopfkinoleinwand zu schätzen weiß, bis er sie schließlich eintönig
tapezieren lässt, weil eine Schrift erscheint: "Die leere,
musterlose Wand hatte sich offenbar in Dienst nehmen lassen für
Mitteilungen, an denen ich nicht interessiert sein konnte. Ich bin
doch nicht Nebukadnezar." (sic, S. 146)
Die schwerblütigen Titel von Martin Walsers in letzter Zeit erschienenen
Büchern offenbaren nicht ansatzweise, wie amüsant und leicht-sinnig in
der besten Bedeutung des Wortes der Autor Geschichten und Figuren aus
seinem reichen Erfahrungsschatz zu zaubern vermag.
"Statt etwas oder Der letzte Rank" ist einfach großartige, hinreißende
Lektüre mit hohem Wahrheitsgehalt.
(kre; 01/2017)
Martin
Walser: "Statt etwas oder Der letzte Rank"
Rowohlt, 2017. 176 Seiten.
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