Jussi Valtonen: "Zwei Kontinente"


Von der Vergangenheit eingeholt

Jussi Valtonens vierter Roman "Zwei Kontinente" ist der erste, der in deutscher Übersetzung erscheint. Der 1974 in Finnland geborene und hoch angesehene Autor war viele Jahre als Psychologe tätig, bevor er mit dem Schreiben von Romanen begonnen hat. "Zwei Kontinente" ist sein internationaler Durchbruch und liegt auch bereits auf Englisch vor. Für diesen Roman erhielt er 2014 den wichtigsten Literaturpreis Finnlands.

Vorweg, dieser Roman ist ein großer Schmöker, der sich stilistisch und erzähltechnisch an den großen us-amerikanischen Familien- und Generationsromanen von Jonathan Franzen, John Updike, Nicole Krauss und anderen Autoren orientiert. Das Erzählen passiert langsam, ausschweifend, und über die Beleuchtung verschiedenster Ereignisse aus dem Leben der Protagonisten nimmt der Autor Bezug auf aktuelle Zeitgeschehnisse. Das ist im ersten Abschnitt etwas behäbig und teilweise (bewusst) bisweilen unverständlich. Das Gesamtbild soll der Leser ja erst sehen, wenn der letzte Punkt gesetzt ist. Stilistisch sicher zieht Valtonen seine Kreise um die Geschichte von Joe und Alina, die einen gemeinsamen Sohn haben.

Joe, us-amerikanischer Wissenschaftler, lernt Alina, eine finnische Aspirantin, auf einer Konferenz kennen und lieben, es gibt weitere Begegnungen. Und so wird aus der Affäre rasch mehr. Als Alina schwanger wird, entscheidet sich Joe gegen Angebote von "Ivy League"-Universitäten in den USA und nimmt eine Stelle an der Universität Helsinki an. Sehr zum Leidwesen seiner Eltern, die gehofft hatten, er würde seine jüdische Freundin heiraten und ähnlich wie sein Bruder eine schöne, echte jüdische Hochzeit feiern, lässt er nicht nur die großen Arbeitsplatzchancen in den USA hinter sich, sondern auch die Verlobte. Europa und Finnland stellen für ihn das große Los dar. Offenheit, Ungezwungenheit, soziale Sicherheit, Lässigkeit und eben all das, was für ihn das Gegenteil zur Verklemmtheit Amerikas verkörpert.

In Helsinki, mit Frau und Kind, muss er bald erkennen, dass die Arbeit an der Universität viel uninteressanter ist, als jene, die er an einer der großen Universitäten in den USA haben hätte können. Alles ist langsam, behäbig, engstirnig, unkoordiniert, trist und provinziell. Dazu kommt, dass er als Arbeitstier komplett darauf vergisst, dass er eine junge Frau mit Kind hat.

Dass sich das auf die Psyche Alinas auswirkt, die an Halluzinationen leidet, was man als Leser bald verstanden hat, ist vorhersehbar. Joes Assistentin, die für Alina einfach das Mädchen ist, ist ihr ein Dorn im Auge. Überall sieht sie das Mädchen, daheim, während sie am Tisch mit Joe sitzt, auf der Straße und sogar im Ehebett, wo sie meint, die Assistentin kopfschüttelnd am Rand des Bettes sitzen zu sehen. Jene Verwirrung, welche diese Halluzinationen anfangs auslösen, ist jedoch bald verschwunden.

Es kommt, was kommen muss. Das Paar trennt sich. Joe geht alleine zurück nach Amerika, heiratet bald wieder und hat zwei Töchter mit seiner neuen Frau. Er findet letztendlich doch noch eine Anstellung an einer renommierten Universität, wo er seine Forschungen betreiben kann. Alina gründet auch eine neue Familie und hat zwei weitere Söhne.

Jahre später erhält Joe einen Anruf von Alina, die ihm mitteilt, dass sich sein Sohn nun in den USA befinde. Fast gleichzeitig zerstören Tierschützer Joes Büro. Später erfährt Joe, dass sein Sohn sich einer Gruppe von Tierversuchsgegnern angeschlossen hat. So wird Joe, natürlich im unpassendsten Moment, von seiner Vergangenheit eingeholt..

Die Geschichte der Protagonisten ist wirklich nicht uninteressant, schweift aber von Zeit zu Zeit immer wieder zu sehr ab, sodass es immer wieder längere Passagen gibt, die eigentlich wenig bis gar keinen Bezug zur Entwicklung der Geschichte aufweisen. Der Roman hat zusätzlich noch etwas sehr Fragmentarisches, Bruchstückhaftes, einfach auch deshalb, weil Jussi Valtonen sich bemüht, möglichst viele Themen in seinem Roman unterzubringen. Dadurch entsteht eine Überbelastung, die sich auf den Lesefluss teilweise negativ auswirkt. Auch die Erinnerungen der Protagonisten, die im Grunde die Erzählung dieses Romans tragen und an einem gewissen Mangel an Selbstreflexion zu leiden scheinen, bleiben mitunter zu sehr an der Oberfläche und für einen derart umfangreichen Roman fast zu uninteressant. Möglicherweise bewusst, um der Ebene der globalen Themen mehr Raum zu geben.

Dass Valtonen Finnland und die Finnen aufs Korn nimmt und heftig (leider teilweise mit der Brechstange) Dampf ablässt, ist sicherlich etwas, das für den großen Erfolg dieses Romans in Valtonens Heimat mitverantwortlich sein könnte. Allerdings ist die Ernsthaftigkeit, mit der das alles daherkommt, doch etwas schwer verdaulich. (Selbst-)Ironie ist etwas, das Jussi Valtonen zumindest in der eigentlich ausgezeichneten Übersetzung fehlt. Ob diese im Original vorhanden ist, kann der Rezensent nicht beurteilen. Ebenso ernst bemüht sich der Autor politische und gesellschaftliche Themen zu kommentieren, zu hinterfragen und bewusst darzustellen.

Nichtsdestotrotz, "Zwei Kontinente" ist ein wirklich guter Roman, der sehr viel will und somit auch stark riskiert. Er ist über weite Strecken sehr gut zu lesen und auch unterhaltend. Die stärksten Prosamomente hat er gleich zu Beginn, in den Halluzinationen Alinas. Gegen Ende nimmt die Erzählung richtig Fahrt auf und verknüpft im Eiltempo fast alle Handlungsstränge zu einem nachvollziehbaren und spannenden Finale, das dann für einige Durststrecken entschädigt. Bleibt zu hoffen, dass Übersetzungen der anderen und zukünftigen Romane von Jussi Valtonen folgen werden.

(Roland Freisitzer; 05/2017)


Jussi Valtonen: "Zwei Kontinente"
(Originaltitel "He eivät tiedä mitä tekevät")
Übersetzt von Elina Kritzokat.
Piper, 2017. 574 Seiten.
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