Ljudmila Ulitzkaja: "Jakobsleiter"
Familiengeschichte
im Spiegel des 20. Jahrhunderts
Ljudmila Ulitzkajas Roman ist aus verschiedenen Gründen ein
spannendes Unterfangen, das letztendlich zu einem unausgewogenen
Leseerlebnis führt. Da ist einerseits das Streben der Autorin,
die Liebesgeschichte ihrer Großeltern in den Zeiten der
Russischen Revolution und des Stalinismus zu erzählen. Dazu
lässt sie Nora, definitiv das alter ego der Schriftstellerin,
Mitte der 1970er-Jahre Briefe ihres Großvaters in einer Kiste
aus dem Nachlass ihrer Großmutter finden. Zusätzlich
erzählt sie Noras Geschichte in den letzten fünfzehn
Jahren der Sowjetzeit und in einigen Episoden aus dem post-sowjetischen
Russland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Ulitzkajas Großvater Jakow Ulitzki, 1890 in
Kiew als Sohn
eines jüdischen Mühlenbesitzers geboren, im Buch
heißt er Ossitzki, darf seinem Wunsch, Musik zu machen, nicht
nachgeben. Er studiert Ökonomie, zieht als Freiwilliger in den
Krieg und sorgt als Statistiker für gerechte Ordnung. Stalins
Repression gegen die Intelligenz trifft ihn, und er wird dreimal zu
Lagerhaft in Sibirien verurteilt. Erst drei Jahre nach Stalins
Tod wird
er anno 1956 rehabilitiert. Zwischen seinen Haftstrafen arbeitet er als
Dozent für Statistik an der Wirtschaftsfakultät des
Moskauer Filminstituts und schreibt Berichte für das
Jüdische Antifaschistische Komitee zur
Palästina-Frage. Seine letzte Haft in der Teilrepublik Komi
überlebt er nur zwei Jahre. Körperlich und psychisch
gebrochen stirbt er 1955 an einem Herzinfarkt. Er hinterlässt
zahlreiche Bücher und Schriften, die zum Großteil
vom KGB verbrannt werden. Sein tragisches Leben geht nicht spurlos an
seiner Familie vorbei. Seine Frau Maria (Marussja), die ihren Traum,
Tänzerin zu werden, aufgeben muss, leidet sehr unter dem
Schicksal ihres Mannes. Briefe können am Ende doch keine Liebe
nähren. Ihr gemeinsamer Sohn Genrich, Noras Vater,
kämpft sich als Sohn eines Volksfeindes mehr schlecht als
recht durchs Leben, berufliche Nachteile prägen seine
Laufbahn. Letztendlich zieht Maria den Schlussstrich und lässt
sich von Jakow scheiden, ein weiterer Schicksalsschlag für
Jakow.
Nora, Jakows Nichte, lebt in Moskau. Sie ist Bühnenbildnerin
und führt ein recht eigenwilliges, kompliziertes Liebesleben.
Während sie den verheirateten georgischen Regisseur Tengis
liebt, hat sie ein Kind vom Mathematikgenie Vitja, der allerdings nach
Amerika auswandert und dort berühmt wird. Mit Tengis verbindet
sie eine wechselvolle Beziehung, immer wieder sieht man einander
während von Tengis betreuter Produktionen in Moskau oder auf
Tourneen. All das ist wiegesagt kompliziert und führt zu
Situationen, die ihr Leben in der Sowjetunion ebenso erschweren.
Ihr Sohn Jura widmet sich der Musik, ist Anhänger der
"Beatles" und zieht nach dem Zerfall der Sowjetunion als Gitarrist
durch die New
Yorker Szene. Nora holt den heroinsüchtigen Sohn
zurück nach
Moskau, wo er nach einem Entzug eine Familie
gründet und sein Geld mit dem Komponieren verdient.
All diese verworrenen und tragischen Geschichten verwebt Ljudmila
Ulitzkaja in diesem Roman, der den Leser definitiv nicht kalt
lässt: Geschichten, die nur das wahre Leben zu schreiben
vermag.
Ulitzkaja beschreibt Theaterinszenierungen und lässt den Leser
an unendlich vielen Diskussionen über Interpretationen und
Bühnenbilder teilhaben. Sie widmet ebenso viel Aufmerksamkeit
der Musik, die sich, angefangen von Jakow bis hin zu Jura, wie ein
roter Faden durch alle Generationen zieht. Die Liebesgeschichten in
diesem teilfiktiven Roman wandern durch alle möglichen
Zustände von Treuebruch, Gewalt, Indifferenz, Empathie und
Verrat. Die Autorin schildert, wie Mut und Feigheit Leben bestimmen und
mit welcher Wucht politische repressive Systeme Unschuldige
zerstören können.
Das ist in den meisten Episoden sehr überzeugend, weil mit
großer Leidenschaft geschrieben. Erfreulich ist, dass
Ljudmila Ulitzkaja nicht wertet, sie unterlässt es, den
moralischen oder gar besserwisserischen Zeigefinger zu heben. Die
Geschichten sprechen für sich selbst und wären, jede
für sich, stark genug, um einen eigenen Roman zu tragen. Genau
hier ist auch die Schwachstelle dieses Romans zu finden. Zu viele
Linien, zu viele Querverbindungen trüben den Gesamteindruck
des großartig von Ganna-Maria Braungardt übersetzten
Romans, der den Leser immer wieder fast mit seiner Fülle an
Informationen erschlägt. Jene Lücken, die in einem
rein fiktiven Roman verschwiegen oder durch die Macht die Erfindung
erzählt werden können, werden im Genre des auf wahren
Begebenheiten basierenden Familienromans üblicherweise nur
durch Vermutungen zu einem Ganzen komplettiert. Wie zum Beispiel die
von Ulitzkaja nur auf Vermutungen aufbauende Erzählung der
Liebesgeschichte oder Affäre Marias mit einem
Politikprofessor, die sich allerdings einer eindeutigen politischen
Erkenntnis entzieht und somit seltsam fremd und distanziert bleibt.
Vielleicht hätte eine gehörige Portion
Respektlosigkeit geholfen, ihren Protagonistinnen und Protagonisten
mehr Leben einzuhauchen, als es der Autorin mit dem gewählten
Zugang geglückt ist. Man vermeint fast die
Glacéhandschuhe zu sehen, mit denen Ulitzkaja ihren Roman
geschrieben hat. Am Ende bleibt leider, auch wenn die Geschichten
selbst alle berührend und tragisch sind, ein
merkwürdig distanzierter Beigeschmack zurück, der
dazu führt, dass man in diesem etwas unausgewogenen Roman
immer wieder gefühlte Leerläufe wahrnimmt, wo
eigentlich keine sein müssten.
(Roland Freisitzer; 10/2017)
Ljudmila
Ulitzkaja: "Jakobsleiter"
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Hanser, 2017. 640 Seiten.
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