Jón Kalman Stefánsson: "Etwas von der Größe des Universums"


Alle Wege führen nach Keflavik

Immer wieder hat das kleine Island, das eine Einwohnerzahl von 333.005 aufweist, großartige Schriftsteller hervorgebracht. Unter Anderem Einar Kárason, Jón Kalman Stefánsson, Audur Ava Ólafsdóttir und Halldór Laxness, der 1955 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Eine wirklich ausgezeichnete Krimiszene gibt es ebenfalls, angeführt von Arnaldur Indriðason und Yrsa Sigurðardóttir.

Wer Stefánssons letzten Roman "Fische haben keine Beine" gelesen hat, der wird hier auf viele "alte Bekannte" treffen. Da gibt es vor allem Ari, der, nachdem er seine Frau verlassen hatte, im Vorgängerroman in seine Heimat zurückgekehrt war. Der sich nicht sicher war, ob er sie vielleicht doch noch liebte. Der seinen Vater, den er seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte, wiedersehen wollte. Nicht nur so, sondern auch weil es da einige offene Punkte gab, die zu klären waren. Der von seinen Großeltern erzählt hat, von ihrer Liebe und aus ihrem Leben.

Der neue Roman setzt interessanterweise ungefähr zum selben Zeitpunkt ein. Auch jetzt ist Ari auf dem Weg zu seinem Vater Jakob. Das Verhältnis der beiden ist, milde ausgedrückt, nicht gerade berauschend herzlich. Mäandernd und abschweifend geht das los, Stefánssons Gedanken, bzw. die seiner Protagonisten, schweifen ab, ändern ihren Kurs, gehen in Erinnerungen über, Gedankenstrom und deprimierende Szenen, die meist einen unglaublichen Sog entwickeln, einfach weil Stefánssons Prosa so stark ist, seine Sätze so stark sind. Einmal ist sie bildreich und deskriptiv, dann wieder kurz und präzise, meistens sehr dicht, dafür in den richtigen Momenten so aufgelichtet, dass man durchatmen kann. Gerade diese Wandelbarkeit ist wirklich stark, weil sie dem in Wahrheit ziemlich bewegungslosen Roman viel Kontur verleiht. Hier sei angemerkt, dass die Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig wohl wirklich kongenial sein muss, weil man an keiner Stelle merkt, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Außer natürlich bei den Namen der Protagonisten und den Schauplätzen. Ein Roman zum Lesen in der U-Bahn ist "Etwas von der Größe des Universums" definitiv nicht.

"Mit meinem Tod habe ich ja gerechnet aber nicht mir dir. Sagt Jakob, als er die Tür aufmacht, nachdem der Morsecode endlich zu ihm durchgedrungen ist, durch Megas und den Tabakqualm, der die ganze Bude vernebelt. Ein lustiges Morsesignal - kündigt sich so der Tod an? 'Salzfleisch und Bohnen, Tod kommt', und den, den er holen kommt, in Ruhe zu wiegen, um ein altes Wrack, einen jungen Menschen, ein kleines Kind, das unbeschreibliche Angst hat, zu beruhigen und zu trösten: Kein Angst, ich bin vielleicht die Finsternis, in der scheinbar alles spurlos verschwindet, aber nach mir kommen Sonnenschein und Vogelzwitschern."

Alles scheint sich, wie in "Fische haben keine Beine" um Keflavik zu drehen. Einen mystischen Ort, der zusätzlich auch mit der Stationierung von US-Truppen zu tun hat, eine Tatsache, die von Laxness bis Indriðason - und eben auch Stefánsson - immer wieder nach Aufarbeitung zu schreien scheint. Der Autor dreht und wendet seine Gedanken. Eine herkömmliche Handlung ist nicht vorhanden. Eher dringt der Autor tief in seine Figuren ein, gibt sie dem Leser preis, ohne dabei die Härte, Kälte und Rauheit des Lebens, das nicht zuletzt auch vom Wetter auf Island und der schroffen, kargen Landschaft geprägt ist, zu mildern. Dass die Dunkelheit, die in den Wintermonaten vorherrscht, auch auf die Stimmung drückt, ist klar. Das ist durchgehend intensiv, manchmal fast zu sehr.
"Nein, sagte Jakob, und darum bin ich wahrscheinlich nie frei gewesen. Er lachte kurz in die Stille um sie herum und nahm das Bier, das Siggi aus seiner Hosentasche zog. Der Himmel über ihnen schwieg. Erstaunlich, dass etwas so Großartiges dermaßen still sein konnte."

Todesfälle gibt es in diesem Roman einige, manche ruhig und unspektakulär, manche auch wieder dramatisch, wie jener des Mannes, der sturzbetrunken ins Wasser geht.

Da sich Stefánsson nicht um eine lineare Erzählung bemüht, ist es mitunter nicht leicht, alle Querverbindungen und Verstrickungen im Auge zu behalten. Für das Verständnis dieses Romans ist es sicher hilfreich, wenn man bereits "Fische haben keine Beine" gelesen hat. Ein Muss ist die vorhergehende Lektüre des Vorgängers und Schattenbruders allerdings nicht.

Liebe, Tod, Freiheit, Kälte, Wärme, Trennung und Zusammenkommen, Freundschaft und das Leben selbst, das sind die großen Themen, die hier die Familiengeschichte Aris tragen. Große Themen allemal, die diesen Roman, wenn man bereit ist, sich auf ihn einzulassen, zu einem großartigen, wenn auch langsamen Leseereignis machen. Jón Kalman Stefánsson ist wieder einmal ein großer Wurf gelungen, der so eigenbrötlerisch wie originell ist und dementsprechend wahrscheinlich keine große Leserschar finden wird. Dennoch, vielleicht auch gerade deshalb, eine ganz starke Leseempfehlung.

(Roland Freisitzer; 03/2017)


Jón Kalman Stefánsson: "Etwas von der Größe des Universums"
(Originaltitel "Eitthvað á stærð við alheiminn")
Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig.
Piper, 2017. 400 Seiten.
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