Ulrich Schacht: "Notre Dame"


Liebe nach der Wende

Als die Mauer 1989 fiel, hatten die Menschen des nun vereinten Deutschlands endlich die Möglichkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu bewegen. Ohne Rücksichtnahme auf Politik, auf ein makelloses Führungszeugnis oder sonstige Faktoren. Jene Familien, die geteilt worden waren, konnten sich wieder vereinen, und natürlich durfte auch die Liebe wieder grenzübergreifend passieren. Genau so ein Fall ist der Ausgangspunkt für Ulrich Schachts Roman "Notre Dame".

"Schade, dass es nur dieses eine Leben gibt - ich bräuchte so nötig zwei: eines zum Lernen und eines zum Leben."
Diese Aussage Rikes, der großen Liebe des Protagonisten Torben Berg, seines Zeichens anerkannter Journalist und Autor, ist symptomatisch für die in diesem Roman vorherrschende Stimmung. Da wir natürlich alle nur einen einzigen Versuch haben, kommt es, so die Botschaft, auf die Liebe an. Wer die Kraft findet, uneingeschränkt lieben zu können, der besitzt beste Aussichten, seinen einzigen Versuch erfolgreich zu bewerkstelligen. Allerdings nur, wenn er selbst im Scheitern nicht verzagt.

Wenige Wochen nach der Öffnung der Grenzen lernt Torben Berg Henrike Stein, Rike, in einer Nacht in Leipzig kennen. Nach einem zögernden Herantasten stürzen sich die beiden in eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Und das, obwohl Torben Berg verheiratet ist und eine Tochter hat, und Henrike in einer Beziehung lebt. Zusätzlich, und hier findet sich eine der Parallelen zu Philip Roth, liegt zwischen den beiden Liebenden ein nicht unerheblicher Altersunterschied. Torben Berg bemüht sich nun vermehrt um dienstliche Reisen in die ehemalige DDR, damit er seine Rike so oft wie möglich sehen kann.
"Die Kontrolle durchschnitt Berg mit der Körpermechanik eines leicht Betäubten, seinen Kopf jedoch durchschwirrten fast panisch, als sei ein Vogelschwarm durch einen Schuss aufgeschreckt worden, die Deutungsversuche all dessen, was er soeben und gestern erlebt hatte: Die Sätze auf den weißen Briefkarten Rikes vom Dezember hatten sich nicht in Luft aufgelöst, sie hatten sich vielmehr in Fleisch und Blut verwandelt. Die Berührung in der Bar war nicht aus Versehen geschehen, sie hatte ihn heilen sollen, im selben Moment, da sie ihn erreichte."

Ein auf den ersten Blick also gar nicht originelles Sujet eigentlich; älterer Mann, jüngere Frau, eine außereheliche Beziehung, die Zeit nach der Wende. Den feinen Unterschied macht Ulrich Schachts schriftstellerisches Können aus. Schacht würde wahrscheinlich sogar mit einem Roman über zwei auf einer Bank sitzende Ameisen ein literarisches Erlebnis schaffen.

Die feinen Beobachtungen, welche Schacht über Torben Berg, der womöglich eine Art alter ego des Autors ist, dem Leser nahebringt, sind berauschend sinnlich und bieten immer wieder Momente der Erleuchtung.

Als Kulturjournalist hatte Berg das Ende der DDR herbeigesehnt. Während des Theologiestudiums als Dissident verhaftet, saß er einige Jahre in einem Stasi-Gefängnis, bevor er von der Bundesrepublik Deutschland quasi freigekauft wurde. Auch seine Frau war in Haft. Ihre Schuld: Vorbereitung der Staatsflucht. Er ist ein wichtiger Zeitzeuge, der gern herumgereicht wird und über den eine Reportage gedreht werden soll. Die Dokumentation wird bald nach der Wende gedreht und beschäftigt sich mit seiner Kindheit, seiner Jugend und seiner Inhaftierung. Er fliegt nach England, um dort an Diskussionsrunden und Podiumsgesprächen teilzunehmen. Immer an seiner Seite: Rike. Bald, nach Frankreich- und Englandreisen, zeigt die Leidenschaft erste Risse. Gegenseitige Vorwürfe und Torben Bergs fast krankhafte Eifersucht löschen die Flamme sukzessive.
"Jetzt erst, mit dem kalten Wasser, fing er an, zu sich zu kommen, fing an zu begreifen, was sie meinte: Sie hatte es tatsächlich gesehen, dieses andere Bild von ihm, und sie hatte es nicht ertragen können, nicht ertragen wollen, ihn so sehen zu müssen, widerspruchslos - so wenig, wie er es selbst ertrug, nachdem sie es nun auch ihm vor Augen gerückt hatte."

Die große Kunst dieses Romans ist die Verschachtelung der verschiedenen Ebenen. Auf der einen Seite die politische und geschichtliche Ebene, die ja für sich ein bereits übermächtiger Brocken ist. Auf der anderen die private, leidenschaftliche Ebene. Die Geschichte trifft auf die private Ebene. Und das ist selten so gelungen wie in Ulrich Schachts Roman "Notre Dame".

Schachts bestechende, poetische, wandlungsreiche und polyphone Prosa ist, zusätzlichen zu den anderen Qualitäten dieses Romans, das wirklich Berauschende, der große Sieger. Jeder Satz ist wie in Stein gemeißelt, ausgefeilt, genau ausgehört und auf seine Umgebung abgestimmt. Die Dialoge ebenso, mit fein ausgehörten Persönlichkeiten der Protagonistinnen und Protagonisten. Protagonisten, die ihre Grenzen überwinden, die ihre neu gewonnene Freiheit in der Liebe suchen und doch nie ganz frei sein können.

Ein wahrlich großartiger, ja herausragender Roman, dem der Rezensent eine große Leserschaft wünscht.

(Roland Freisitzer; 05/2017)


Ulrich Schacht: "Notre Dame"
Aufbau, 2017. 431 Seiten.
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