Tilman Rammstedt: "Morgen mehr"


Wenn der Titel Programm ist

Tilman Rammstedt ist ein geistreicher, witziger Erzähler. Das ist bekannt. Zahlreiche Preise, wie der Haupt- und Publikumspreis beim "Ingeborg Bachmann"-Wettbewerb 2008 bestätigen, dass er sowohl bei Kritikern, als auch bei der Leserschaft punkten kann. Und das ist etwas, was nicht viele junge deutschsprachige Autoren von sich behaupten können. Witzig, frech, trendig und flott ist seine Prosa; seine Geschichten ebenso. Von der skurrilen Chinareise in "Der Kaiser von China" bis hin zu Bruce Willis als Protagonisten in "Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters", Rammstedt weiß, wie er seinen Leser bei Laune hält. Perfekte Tempi, die keine Längen entstehen lassen.

Tilman Rammstedt ist jedoch ein Autor, der offensichtlich, zumindest laut diverser Interviews, ein großes Problem mit dem Abgabetermin hat. Anscheinend nahegelegt seitens seines Verlegers Jo Lendle, dem er von Dumont zu Hanser gefolgt ist, schreibt er einen Folgeroman, bei dem seine Leser auf der Netzseite des Verlags jeden Tag ein neues Kapitel zu lesen bekommen. Der vielleicht interessanteste Aspekt dieser Idee ist der, dass durch den Zwang des täglichen Ablieferns eines Kapitels allzu vorausschauendes Schreiben ad absurdum geführt wird. Also möglicherweise ein wahres Fluidum entsteht, ein Wildbach, der in einen unzähmbaren Fluss ausartet.

Entstanden ist ein Roman, der durchaus originell ist. Auch wenn es in jüngster Zeit auch andere Romane gab, die aus der Sicht eines Ungeborenen erzählt wurden. Wie zum Beispiel Ian McEwans "Nussschale". Rammstedts Erzähler ist allerdings nicht nur ungeboren, sondern in Wahrheit nicht einmal gezeugt. Am Anfang des Romans hat der Erzähler nämlich ein wirklich großes Problem. Seine Mutter in spe liegt in Marseille mit dem falschen Mann im Bett, und sein Vater in spe hat seine Füße in Betonkübeln stecken und soll im Main versenkt werden. Keine besonders angenehme Situation für den Erzähler. Er hat nämlich nur diesen einen Tag zur Verfügung, um aus der erzählerischen Abseitsstellung, aus der er nicht aktiv eingreifen kann, seine Eltern dazu zu bringen, miteinander zu schlafen und ihn zu zeugen.
"Das Dumme ist nur, dass genau jetzt, in diesem Moment meine Mutter drauf und dran ist, sich von jemandem schwängern zu lassen, der nicht mein Vater ist. Und mein Vater, fast genau tausend Kilometer entfernt, ist genau in diesem Moment drauf und dran, mit frisch einbetonierten Füßen in den Main geworfen zu werden."

Rammstedts Fähigkeit, witzig und geistreich zu sein, macht ihm allerdings einen ordentlichen Strich durch die Rechnung. Das ist ungefähr so, wie einem wahrlich grandiosen Witzeerzähler zu lauschen. Irgendwann driftet man ab, ist gelangweilt aufgrund der Überfülle an geistreicher Unterhaltung. Was extrem schade ist, weil Tilman Rammstedt eine furiose Handlung durch die Seiten seines Romans jagt. Er hetzt von Land zu Land, von Protagonist zu Protagonistin und zaubert skurrile Figuren und Situationen aus dem Hut, die allerdings nie richtig böse sein dürfen. Zu sehr will der Autor unterhalten.
"Es war natürlich noch viel zu früh, das war klar. Und sie brauchte eine üble Gegend, das war auch klar. Sie brauchte in dieser üblen Gegend eine üble Bar, und sie brauchte auf jeden Fall vorher eine Stärkung, also aß sie ein Croissant im ersten Café, und im zweiten trank sie einen Whiskey mit viel Wasser und im dritten einen Whiskey mit wenig Wasser und dann lieber noch einen, und sie schwankte schon, als sie am Hafen ankam, und dort Bar und Bar absuchte."

Die Mutter ist unterwegs auf einer melancholischen Frankreich-Reise, auf den Spuren der Schwester und mit einer Liste abzuarbeitender Dinge, welche die verstorbene Schwester nicht mehr selbst erledigen konnte. Auf dieser Liste, Punkt 19: "Mit einem schwermütigen Franzosen schlafen."
Das schafft sie, und wiederholt den Punkt, weil mehr ja nicht schaden kann. Was gut für den Erzähler ist, weil der Erste ja nicht der Vater sein wird.

Es gibt zusätzlich einen mysteriösen Koffer, dessen Inhalt bis zum Schluss nicht genannt wird. Statt den Inhalt zu nennen, fügt Rammstedt immer "Platzhalter" ein. Dann gibt es noch Uwe, der sich Dimitri nennt und gern Ganove wäre. Leider gibt es auch noch wahre Verbrecher, die auf der Jagd nach dem mysteriösen Koffer sind. Alles das in wahnwitzigen Szenen und Einfällen, die den Roman in einem überraschend kuriosen Schlussszenario am Pariser Eiffelturm enden lassen. Und ein Platzhalterkapitel ist mit Leporello-Seiten am Schluss hinzugefügt.

Dass bei all der Satire manches ein wenig flapsig ausfällt, ist eigentlich nicht überraschend. Wer auf jeder Seite Pointen und Effekte setzt und unter Zeitdruck steht, kann die Sprache nicht immer so gestalten, dass sie allerhöchsten Ansprüchen gerecht wird.
Wenn dem Möchtegernganoven langweilig ist und er darüber sinniert, dass er beim nächsten Mal besser ein Buch mitbringen sollte, da er zu Hause noch irgendwo eins haben müsste, ist das dann doch etwas seicht.
"Dr. Rolf wusste, wann es zu viel war. Meistens half ihm dieses Wissen aber nicht weiter, und er nahm sich trotzdem noch eine zweite Portion oder gab jemandem doch noch eine dritte Chance, und deswegen war Dr. Rolf zum einen wahnsinnig dick und zum anderen ziemlich gereizt. Er sei einfach viel zu nachsichtig, behauptete er oft von sich, und keiner widersprach, weil man das mit der Nachsicht dann doch besser nicht ausprobieren wollte."

So ähnlich geht es mit dem Roman. Man ersetze Dr. Rolf durch Tilman Rammsted und überlege, ob sich der Autor damit nicht ein wenig selbstironisch aufs Korn nimmt. Der Rezensent vermutet, dass dem so ist.

Nichtsdestotrotz, mit der Unterhaltung ist es ja so eine Sache. Man kann sie genießen, legt man nicht alles auf die Goldwaage. Rammstedt kann wirklich viel, wahrscheinlich sogar viel mehr, als er hier zeigt. Heiter und beschwingt geht es zu, man lacht und freut sich über viele äußerst originelle Einfälle, auch wenn man hie und da die Augen verdreht, weil dann doch wieder zu dick oder seicht aufgetragen wird. Das ist in jedem Fall erfrischend und unterhaltend. Schon allein dafür gebührt Tilman Rammstedt höchstes Lob.

(Roland Freisitzer; 06/2017)


Tilman Rammstedt: "Morgen mehr"
Hanser, 2016. 223 Seiten.
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