Madeleine Prahs: "Die Letzten"
Anarcho-Bude
Das Haus in der Hebelstraße 13 ist bereits fast leer. Drei
Parteien wohnen noch in dem Haus, das demnächst komplett
saniert werden soll. Deshalb sollen die alten Mieter natürlich
weichen. Fortschritt und schöne Wohnungen, das soll dem
gierigen Hausbesitzer Thomas Grube mehr Geld bringen.
So viel zur Ausgangssituation des zweiten Romans der 1980 in
Karl-Marx-Stadt geborenen Autorin, die "Die Letzten" auf ihren Erstling
"Nachbarn" folgen lässt. Wo im Debüt sechs
Protagonisten zur Wende literarisch beobachtet werden, sind es hier
drei eher schräge Typen, die sich dem Rausschmiss mit aller
Vehemenz widersetzen. Also wieder eine Art Kammerspiel, das mit
Beleuchtung, alten Geschichten, neuen Possen und skurrilen Dialogen
aufgezogen ist.
Wenn man von oben nach unten vorgehen will, beginnt man mit Jersey, der
Teilzeitstudentin, die eigene Ernte rauchende Tagträumerin,
die mit ihrem ebenfalls nur Teilzeitfreund für einige Zeit
illegal bei "IKEA" gewohnt hat. Sie liebt trockenen Lambrusco, den sie
sich allerdings nur selten leisten kann. Und während sie ihre "Wünsche
bewaffnen" will, hat sie die Kindheit in den Keller
abgeschoben.
Im zweiten Stock wohnt die ehemalige Deutschlehrerin Elisabeth
Buttkies, die die Stadt erst einmal, nämlich
anlässlich ihrer Hochzeitsreise im Jahr 1963 nach Italien,
verlassen hat. Sie ist mittlerweile Witwe und hat Lymphknotenkrebs. Die
orale Chemotherapie, die sie mit Lenalidomid und Lorazepam (von ihr
mehr oder weniger liebevoll "Hanni und Nanni" genannt) durchzieht,
verwirrt ihre Sprachfähigkeit. Aus Rohrspatzen werden
Chorspatzen, und aus dem Armleuchter wird sinnvollerweise die
Handlampe. Alles also im Bereich des kreativen Chaos, von Madeleine
Prahs bemüht liebevoll beleuchtet.
Im Erdgeschoß wohnt Herr Kramer, der arbeitslose Karl, der
trotzdem hofft, dass seine verflossene Erika zu ihm
zurückkehrt. Als ehemaliger Logistiker ist er wie erwartet
Realist, auch wenn die Realität dann schon das eine oder
andere Mal recht frei dehnbar wird. In seinem realistischen Inneren
wüten die Märchen, die ihm seine Mutter
erzählt hat. Aus Hass, Angst, Wut und Scham kam es zum
Rückzug ins Innere, bis ihm mehr oder weniger alles fremd
geworden ist.
Allerdings treten noch weitere komplimentierende Figuren auf. Dialoge
sind nur schwer allein zu führen. Zum Beispiel Herbert, Karls
Saufkumpan, der eine ebenso traurige Figur ist, wie die drei letzten
Mohikaner der Hebelstraße 13 es sind. Zusätzlich
gibt es da noch die Kneipe, die sich gleich ums Eck befindet. Die
"Blaue Perle". Kneipenwirt Zacko bemüht sich, irgendwie
Schwung in die Bude zu bringen und veranlasst so Herbert an einem
italienischen Abend zum Singen. In seinem Gesang, er singt "Santa
Maria", spiegeln sich die Trauer und der Ernst der Lage, den allerdings
niemand so richtig erfassen kann.
Kurzauftritte haben dann noch jeweils ein Anwalt, ein Ermittler, eine
Perücke, ein Nebenbuhler und eine Katze.
Hausbesitzer Thomas Grube ist jene Figur, die als gemeinsamer Feind
alle irgendwie zusammenschweißt. Mehr soll über ihn
an dieser Stelle nicht gesagt sein.
Madeleine Prahs trifft trotz einiger Schwächen, auf die der
Rezensent etwas später zurückkommen wird, die Sprache
ihrer Figuren sehr genau, sie spitzt die Dialoge glaubhaft zu. Wer
meint, am Stammtisch Dialoge zu
Kant lesen zu müssen, ist hier
sowieso fehl am Platz. Jogi Löw, Michael Ballack und das
bürgerliche Spießertum gehören zum
Treibstoff, der den Ofen des Dialogs hier heizt.
Feinfühlig breitet die Autorin die Schicksalsschläge
ihrer Protagonistinnen und Protagonisten vor dem Leser aus, man geht
mit und folgt den Figuren, versteht sie, hofft mit ihnen und
weiß natürlich, dass das alles eigentlich nicht gut
gehen kann. Denn eine Person überlebt das
Kräftemessen nicht. Wer, das muss der Leser schon
selbst herausfinden!
Die Schwäche von Prahs Prosa ist da zu finden, wo sie in
übertrieben "lustige" Dialoge und Erzählungen
abgleitet. Da entgleitet ihr das eine oder andere Mal das stilistische
Fingerspitzengefühl. Vielleicht auch bewusst, de facto bewusst
klischeehaft eine soziale Schicht zeichnen wollend. Mag sein, zu lesen
ist das, auch wenn man prinzipiell vom Tonfall der Figuren
überzeugt ist, nicht immer schön. Allerdings, selbst
da spürt man immer, wie die Wunden der drei Letzten ihre
Psyche, ihre Zweifel und ihre Leben geformt haben, wie sehr es hier um
einen existenziellen Kampf geht, den sie gegen eine Art
Westentaschen-Napoleon führen.
Insgesamt eine recht unterhaltende Lektüre, die immer wieder
für Stellen mit Tiefgang sorgt, aber nicht immer auf gleichem
Niveau dahingleitet.
(Roland Freisitzer; 08/2017)
Madeleine
Prahs: "Die Letzten"
dtv, 2017. 304 Seiten.
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Madeleine
Prahs, geboren 1980 in Karl-Marx-Stadt, ist dort und am Ammersee
aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte in
München und Sankt
Petersburg. Während der Arbeit an "Nachbarn", ihrem ersten
Roman, erhielt sie mehrere Auszeichnungen und Förderungen,
u.a. Werkstatt-Stipendien des "Literarischen Colloquiums Berlin" und
der "Jürgen-Ponto-Stiftung". Sie lebt und arbeitet in Leipzig.