Christoph Poschenrieder: "Kind ohne Namen"


Fremdsein

Christoph Poschenrieders Roman "Kind ohne Namen" beginnt damit, dass Xenia, die Ich-Erzählerin, in das Dorf ihrer Kindheit zurückkehrt. In ein Dorf, das so entlegen ist, dass man meint, es sei von der Welt vergessen. Ein abgebrochenes Studium der Literatur in der großen Stadt, in der sie die gesuchte Welt nicht gefunden hat, bringt sie mit. Dazu Erfahrung als Kellnerin. Dass sie auch schwanger ist, erfährt man relativ bald, genauso wie die Tatsache, dass Xenia ein Faible für dunkle, südländische Männer hat.

"Wir sind das letzte Funkloch in Deutschland. Die Telefongesellschaften haben Köpfe gezählt und lassen uns in Rückständigkeit versauern. Auf unseren Dächern schwanken turmhohe, dünne Eisenstangen, gekrönt von den mageren Fischgräten der Fernsehantennen. Hilft nicht viel, der Empfang ist schlecht, immerzu schneit es auf der Mattscheibe, und bei Sturm fallen die Stangen um ..."

Es ist ein Dorf, wie es viele gibt. Die jungen Menschen machen sich auf in die Stadt, zurück bleiben die Alten und eine Menge leere Häuser. Die Aussicht auf Arbeit ist praktisch null, die wenigen Betriebe, die hier ansässig sind, kümmern sich um jene Dinge, die benötigt werden. Das Zentrum des Dorfes ist in jeder Hinsicht das Wirtshaus. Da trifft man sich, da erfährt man, was los ist, Tratsch und Klatsch. Im Wald, am Hügel, gibt es eine Burg und einen mysteriösen Burgherrn, der sogar seinen versteckten Anfahrtsweg durch die Scheune des Hauses von Xenias Familie hat. Der Burgherr ist im Besitz einer großen Bibliothek, in der es neben den Werken der Weltliteratur auch von Adolf Hitler signierte Exemplare von "Mein Kampf" gibt, aus der Xenia in ihrer Kindheit immer wieder Bücher ausleihen durfte. Man spürt, dass hier eine Bindung zwischen ihm und Xenias Familie besteht, die im Dunklen liegt.

Viel tut sich nicht, bis eines Tages ein weißer Bus mit einer kleinen Anzahl von Flüchtlingen eintrifft, die im Schulhaus untergebracht werden. Xenias Mutter hat die Betreuung übernommen und muss bald feststellen, dass sie für die anderen Bewohner des Dorfes so zum Feindbild geworden ist, zusammen mit den Ankömmlingen, die sich im kleinen Dorf noch fremder fühlen, als in einer großen Stadt.
Poschenrieder zeigt auf, wie Xenophobie, Rassismus und Angst vor dem Fremden überhand nehmen. Das liest sich teilweise fast wie aktuelle, realistische Berichte aus den Tageszeitungen, die wir täglich zu Gesicht bekommen.
Der Buschauffeur, der die Gruppe hergebracht hat, singt, als die jungen Männer mit ihren Mobiltelefonen Empfang suchen: "Jeder Kongoneger hat'n Hosenträger, aber unsereiner, der hat nichts, unsereiner, der hat nichts. Jeder Kongoneger ..."

Zum Willkommensfest kommt fast niemand, nur Xenia und ihre Mutter und ein Onkel sind da. Das Fest, bei dem Grillwürstel und Bier in Unmengen überbleiben, zeigt Xenias Mutter sehr genau, worauf sie sich eingelassen hat.

Die aufgeschlossene Xenia, die in der Zwischenzeit einige Abende in der Woche im Wirtshaus aushilft, bemüht sich, den Ankömmlingen Gastfreundschaft und Hilfe angedeihen zu lassen. Als sie mit Ahmed auf den "Handyberg" geht, damit er dort ein Netz, hat um E-Mails zu empfangen und seine Telefonate erledigen kann, kommt es auf dem Rückweg zu einer unangenehmen Begegnung mit einer Gruppe von Männern in Tarnkleidung, die offensichtlich im Auftrag des Burgherren unterwegs ist. Mit dabei in dieser Gruppe: Xenias Bruder, der sich als Aktivposten der rechten Gruppierung erweist. Woraufhin Xenias Ruf noch stärker leidet, man sieht sie als Flittchen der Muselmanen.

Bald kommt noch mehr Unruhe auf, weil es sich herumspricht, dass eine viel größere Gruppe von Asylsuchenden im Dorf eintreffen soll, die der Burgherr in den Knappenhäusern unterbringen will. Es kommt zu Reibereien, und bei einer aufgebrachten Zusammenkunft im Wirtshaus bringt der Burgherr die meisten zum Einlenken, indem er ihnen lukrative Arbeit verspricht, die mit den Flüchtlingen zu tun hat. Unter Anderem beauftragt er den Besitzer des Wirtshauses mit der Verköstigung der Flüchtlinge, die natürlich an die Bedürfnisse angepasst werden muss. Die Aussicht auf Verdienst bringt zumindest oberflächliche Ruhe, doch unter der Oberfläche, da brodelt es gewaltig. Und dann, eines Nachts, bevor die neuen Flüchtlinge ankommen sollen, brennen die Knappenhäuser ...
"Die Dachstühle der Knappenhäuser brannten in der Nacht - die Flammen erleuchteten das ganze Tal. Feuerwehren von fern und nah pumpten und spritzten. Es hieß, der Ellernbach sei unterhalb der Saugstelle vollständig trockengelegt gewesen - der Fischereiverein ist zutiefst erbost und klagt im Namen der verstorbenen Fische: umsonst, umsonst, das ganze Leid, wegen der paar alten Mauern."

Daraufhin verschwindet Xenias Bruder, ein Asylsuchender ist ebenso verschollen, und irgendwann findet man in den abgebrannten Ruinen eine Leiche. Xenia geht dem nach und muss feststellen, dass hier viel mehr im Verborgenen ist, als sie es sich je gedacht hätte.

"Kind ohne Namen", der Titel wird erst gegen Ende des Romans aufgeklärt, ist, obwohl es danach aussieht, kein Flüchtlingsroman. Es geht dem Autor um die Darstellung der verschrobenen, ambivalenten Figuren, um die Darstellung von salonfähig gewordenem Alltagsrassismus, darum, wie leicht Menschen beeinflussbar sind, um Dinge zu tun, die sie sich selbst nicht erklären können. Hier mehr zu verraten, würde dem Leser zu viel im Vorhinein mitteilen, wodurch er um den Genuss des ausgezeichnet konstruierten Romangefüges umfallen würde. Der Autor zeigt auch, wie in einer zurückgezogenen Gesellschaft, wofür sich ein selbst um ein funktionierendes Mobiltelefonnetz betrogenes Dorf natürlich perfekt eignet, Probleme entstehen und Offenheit nur schwer erreicht wird. Somit ist es auch eine Parabel auf unsere Gesellschaft, die sich so leicht von den Medien und den Rechtspopulisten dazu verleiten lässt, Fremdheit und Andersartigkeit als Gefahr zu sehen.

Christoph Poschenrieder erzeugt herrlich dunkle Stimmungen und bizarre Szenen im Dorf, die sich mit den Rückblenden Xenias abwechseln, die erklären, wie es in der Großstadt zur Schwangerschaft und dem Studienabbruch gekommen ist. Von realistischen Momenten bis hin zu fantastischen, fast surrealen Momenten ist alles vorhanden, und dennoch ist die Handschrift des Autors immer klar erkennbar.

"Kind ohne Namen" ist ein wirklich beeindruckender, mutiger Roman, der viel mehr sagt, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

(Roland Freisitzer; 09/2017)


Christoph Poschenrieder: "Kind ohne Namen"
Diogenes, 2017. 288 Seiten.
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