Orhan Pamuk: "Die rothaarige Frau"
Liebe
und Verrat, Schuld und Sühne
Orhan Pamuk gehört zu den seltenen Autoren, deren Werke nach
Erhalt des Nobelpreises für Literatur immer besser werden.
Während die orientalische, ornamentale Erzählweise in
den neueren Romanen ein wenig in den Hintergrund gerückt ist,
ist seine Prosa nun fast entschlackt und schnörkellos
geworden. Seine Romane gewinnen dadurch Tiefe, weil sich die zwischen
den Zeilen versteckte Aussage nicht mehr hinter teilweise langatmigen
Verzierungen versteckt.
Während in "Das
Museum
der Unschuld" ebendiese Langatmigkeit in der zweiten
Hälfte des Romans einige strukturelle Schwächen
offenbart, ist der Roman "Die rothaarige Frau" ein stringent
komponiertes Meisterwerk, das intelligent und originell den
Ödipus-Mythos mit den Komponenten Schuld und Sühne
verwebt.
Der Vater des jungen Cem, der nach der Schule studieren will,
verlässt die Familie eines Nachts, was die Mutter in
finanzielle Schwierigkeiten bringt. Cem versteht, dass sein Vater, der
bereits wegen seiner politischen Aktivitäten inhaftiert war,
diesmal wahrscheinlich nicht aus politischen Gründen
verschwunden ist. Um das Geld für die sogenannte "Paukschule"
zu erwirtschaften, hilft Cem dem Brunnenbauer Meister Mahmut aus, der
in einem noch unbebauten Viertel knapp außerhalb Istanbuls im
Auftrag eines reichen Mannes einen Brunnen bauen soll.
Zwischen dem Brunnenbauer und Cem entwickelt sich trotz des
Altersunterschiedes ein Verhältnis, das in gewisse Weise eine
Art Vater-Sohn-Beziehung wird. Zumindest wird Mahmut für Cem
ein geistiger Vater. Da sich das Graben auf der Suche nach der
Wasserquelle mühsamer als gedacht erweist, dauert Cems
Aufenthalt bei Mahmut viel länger als geplant.
Gleichzeitig tritt in jenem Vorort von Istanbul ein Wandertheater auf,
das Darbietungen für die Soldaten der nahegelegenen Kaserne
und die Bürger des Dorfes bietet. Diese Vorstellungen sind
offenbar politisch motivierte Szenen sowie Persiflagen auf diverse
Mythen. Unter Anderem auf den Ödipus-Mythos,
der Cem stark zu
beschäftigen beginnt. Allerdings beschäftigt ihn die
rothaarige Frau, eine Darstellerin des mobilen Sommertheaters, noch
stärker. Er denkt fast nur noch an sie und bemüht
sich, jede freie Sekunde dazu zu nutzen, ihr nachzugehen, sie zu
beobachten oder einfach nur das Haus, in dem sie zu wohnen scheint, zu
beobachten. Er wird zu einem Nachsteller, der bald unerwartet doch
Kontakt zu einem jüngeren Darsteller aufnehmen kann, der sich
in weiterer Folge als der jüngere Mann der rothaarigen Frau
entpuppt. Unerwartet geschieht dann das, was der pubertierende,
unerfahrene junge Mann sich in den kühnsten Träumen
nicht ausgemalt hätte: er wird von der rothaarigen Frau
verführt und entbrennt in Liebe zu ihr. Nur wenige Tage
bleiben, bis das Theater weiterzieht.
Dadurch etwas unaufmerksam geworden, passiert Cem ein folgenschwerer
Fehler. Während Mahmut in der Tiefe gräbt,
stößt er unabsichtlich den schweren
Schöpfbehälter um, der fünfundzwanzig Meter
in den Schacht hinunterfällt und direkt auf Mahmut landet.
Nach einem Schrei ist es unten still, und Cem entscheidet sich in
seiner Panik dafür, sich aus dem Staub zu machen. Und das,
obschon ihm Mahmut so wichtig geworden war. Er denkt, dass er Mahmut
getötet hat und flieht. Ab diesem Tag lebt er in der
ständigen Sorge, entweder als Mörder verhaftet zu
werden, oder auch in Gedanken an seine Schuld, Mahmut nicht geholfen zu
haben.
Dreißig Jahre später ist er erfolgreicher,
wohlhabender Architekt und Inhaber einer sehr gut gehenden Firma. Er
ist mit einer verständnisvollen und modernen Frau verheiratet.
Die einzige Trübung seiner Ehe
ist die Kinderlosigkeit, obwohl
das Paar alles versucht hat, um Kinder zu bekommen.
Als Cem dem Bestreben nach Gewinn nachgibt und Grundstücke in
jenem Viertel kauft, das damals ein Dorf war und nun ein bereits
komplett veränderter, fast verbauter Teil Istanbuls geworden
ist und so zu medialer Berühmtheit gelangt, eskaliert das
Geschehen.
Er erhält ein E-Mail eines jungen
Mannes, der behauptet, sein Sohn zu sein. Ab diesem Moment hat der
Roman fast die Spannungskurve eines äußert
mitreißenden Thrillers erreicht, ohne
sich auch nur einen schwachen Satz erlaubt zu haben.
Die weiteren Vorkommnisse wird der Rezensent hier bewusst nicht
verraten, weil sonst die von Orhan Pamuk kongenial gelegten Spuren,
Fährten, Pointen und Konstruktionen im Vorhinein
aufgelöst wären, was dem Leser das Vergnügen
nehmen würde, hier staunend dem Ende entgegenfiebern zu
können.
Allerdings wäre Orhan Pamuk nicht er selbst, ginge es in
seinem Roman nur um den Fall selbst. "Die rothaarige Frau" ist ein
großartiges psychologisches Drama, das sich, ausgezeichnet
von Gerhard Meier übersetzt, auf 285 Seiten entfaltet. Ein
Drama, das natürlich in erster Linie mit der Entwicklung der
politischen Situation in der Türkei
verbunden ist, das aber
auch komplett unabhängig davon gelesen werden kann. Welches
Land kann von sich behaupten, nicht irgendwie zerrissen zu sein?
"Die rothaarige Frau" ist jedenfalls ein Roman, der erst auf den
letzten Seiten klar macht, was so lange im Unklaren war, ein
Leseerlebnis der Sonderklasse und möglicherweise auch Orhan
Pamuks bisher bester Roman. Und es ist ein Roman, den man unbedingt ein
zweites Mal lesen sollte ...
(Roland Freisitzer; 10/2017)
Orhan
Pamuk: "Die rothaarige Frau"
(Originaltitel "Kirmizi Sacli Kadin")
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Hanser, 2017. 285 Seiten.
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