Amélie Nothomb: "Töte mich"


Die Wahrung der Contenance

Amélie Nothomb bleibt sich auch im neuesten Roman treu. 111 Seiten, nicht allzu dicht bedruckt, Lesestoff für gute eineinhalb Stunden. Beste Wirkung erzielt dieser feine, kurze Roman sicherlich, wenn er in einer Sitzung gelesen wird.

Graf Neville wird zu einer Wahrsagerin gerufen, die seine jüngere Tochter frierend im Wald gefunden hat. Bevor er seine Tochter nach Hause bringen darf, muss er sich Belehrungen über sein Vatersein anhören. Beim Abschied teilt sie ihm mit, dass er bei seinem in Kürze stattfindenden Gartenfest einen Gast töten wird. Da er de facto pleite ist, muss das Schloss verkauft werden, und die Familie wird in ein kleineres Heim umziehen. Geldsorgen plagen ihn also. Dazu kommt nun die Prophezeiung, die ihm zunehmend zu schaffen macht.
"Plötzlich kam ihm eine Idee, die ihm genial erschien: Er könnte sich ja vorweg ein Opfer aussuchen. Das war die Lösung! Wenn man mehrere hundert Gäste einlädt, mag man ja nicht alle gleichermaßen. Und manche sind einem so zuwider, dass man ihr Verschwinden durchaus begrüßen würde."

Allerdings schlägt sich die Idee, einen vorsätzlichen Mord auf einem Empfang zu begehen, mit den Gepflogenheiten seines Standes, wie er von einem Freund, der in diesen Dingen bewandert ist, erfährt. Im Affekt, das geht gesellschaftlich durch, auch wenn er dafür bestraft wird. Ein vorsätzlicher Mord allerdings, der würde zu Verachtung führen.

Während die beiden älteren Kinder Oreste und Électre beide wunderschön wie ihre Mutter sind, ist die jüngere Tochter Sérieuse ein Mauerblümchen. Blass, still und, wie der Vater vermutet, tief in ihrer Pubertät gefangen. Sérieuse hat die Prophezeiung mitgehört und kennt den Plan ihres Vaters. Einige Tage vor dem geplanten Empfang macht sie ihrem Vater den Vorschlag, sie statt eines Gasts zu töten.
"In meinem Kopf ist es die ganze Zeit so, seit über vier Jahren. Und das ist nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass ich, seit ich zwölfeinhalb bin, nichts mehr empfinde. Und wenn ich sage nichts, dann meine ich nichts. Meine fünf Sinne funktionieren sehr gut, ich kann hören, sehen, schmecken, riechen, spüren, aber ich empfinde keines der Gefühle, die damit verknüpft sind. Du kannst dir gar nicht vorstellen, in welcher Hölle ich lebe. Bernanos hat recht, die Hölle ist die Kälte. Ich lebe permanent am absoluten Nullpunkt."

In langwierigen Verhandlungen ringt sie dem Vater das Versprechen ab, sie während des Empfangs zu töten.
Dass dann alles anders kommt, ist nicht nur erfreulich, sondern gibt dem Roman letztendlich eine Wendung, die den komödienhaften Charakter über eine tragische Geschichte einer Depression stellt. Wie, das soll an dieser Stelle natürlich nicht verraten werden.

Amélie Nothomb spielt äußerst geschickt mit der Literaturgeschichte und der Mythologie. Während der Graf beispielsweise den älteren Kindern die Namen schuldig gewordener Figuren aus der griechischen Mythologie gibt, traut er sich doch nicht, die jüngste Tochter auch noch Iphigénie zu nennen, die durch die Hand des Vaters starb. Nun soll genau das passieren?

Der verarmte Graf selbst scheint eine steife Witzfigur aus einer Commedia dell'arte zu sein, und andere Anspielungen auf die Klassiker der Literatur tauchen auf fast jeder Seite auf. Nothomb lässt den Grafen sogar Oscar Wilde zum Thema lesen. Ironische Formulierungen und perfekt stilisierte Dialoge machen diesen Roman zu einem wirklich heiteren Lesegenuss. Der Graf, dessen Rolle als mondäner und aristokratischer Gastgeber sein Leben bestimmt, sagt beispielsweise an einer Stelle: "Ich bin der letzte Vertreter dieser altmodischen Höflichkeit und exquisiten Kunst des Zusammenseins. Nach mir wird es nur noch Events geben."

Während der Graf also entschieden hat, den Wunsch seiner Tochter zu respektieren, plant er ein rauschendes Fest; noch einmal wird alles aufgefahren, was nur irgendwie möglich ist, sogar eine Sopranistin, die aus Schuberts "Schwanengesang" singt. Das erlaubt Nothomb die überraschende, fast an die "Monthy Pythons" erinnernde Schlusswendung, die zwar etwas komprimiert ist, doch das ist der Roman sowieso längst.
"Drei Stunden Schlaflosigkeit später erinnerte er sich mit einem bitteren Lachen an einen Satz von Stendhal: 'Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert.' Das ist Gotteslästerung, oder? Ich würde gern noch mehr über Gott lästern. Aber ich fürchte, ich bin am Ende meiner Kräfte. Um vier Uhr morgens erbarmte sich Gott des armen Mannes, der so wenig Talent zum Hassen besaß, und ließ ihn schlafen."

Schräg, witzig, pointenreich und unterhaltsam ist "Töte mich" jedenfalls. Ein Kammerspiel über einen aristokratischen Dinosaurier und seine Bemühung, in jeder Situation Contenance zu wahren. Blendend übersetzt von Brigitte Große.

(Roland Freisitzer; 09/2017)


Amélie Nothomb: "Töte mich"
(Originaltitel "Le crime du comte Neville")
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes, 2017. 111 Seiten.
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