Stratis Myrivilis: "Das Leben im Grabe"
Von
den Unmenschlichkeiten des Schützengrabenkriegs. Griechen
und Franzosen hüben - Deutsche und Bulgaren drüben
Im Jahre 1917 war Griechenland ein gespaltenes Land. Während
der in Athen residierende König Konstantin im rundum tobenden
1. Weltkrieg neutral zu bleiben gedachte, richtete Premierminister
Venizelos eine Schattenregierung ein, der sich die nördlichen
Landesteile und zahlreiche Inseln anschlossen. Bald darauf
verstärkten griechische Truppen die Seite der Alliierten im
Krieg gegen Deutschland, Österreich-Ungarn und Bulgarien an
der Balkanfront.
Stratis Myrivilis, einer der vielen Freiwilligen, die so als
griechische Soldaten in den Krieg zogen, wurde 1890 als Evstratios
Stamatopoulos auf Lesbos, der Ägäisinsel, die einst
schon die göttliche Sapfo
hervorgebracht hatte, geboren. Nach
der Schule studierte er in Athen Filosofie und Jus, um sich jedoch 1912
an dem Befreiungskrieg gegen das Osmanische Reich, dem sogenannten
Ersten Balkankrieg, der 1913 wirklich mit einem Anschluss
Nordgriechenlands und der Ostägäisinseln, darunter
der seinen, an Griechenland endete, zu beteiligen. Der Frontkrieg von
1917, in dem es längst nicht mehr nur um zu befreiende Gebiete
mit griechischer Mehrheit ging, sollte dem nun bereits erfahrenen
Soldaten dann ausgiebige Bekanntschaft mit dem Kampf in den
Schützengräben bringen, in diesen wurde die Arbeit
zu "Das Leben im Grabe" begonnen, in diesen spielt ein Gutteil des
Romans,
von diesen spricht sein Titel. 1923/24 veröffentlichte
Myrivilis, längst zum Pazifisten geworden, die erste Fassung
in Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos, die letzte, auch dieser
Übersetzung zugrundeliegende Fassung des Romans, an welchem
der Schriftsteller während all der Zeit immer wieder
inhaltlich wie
stilistisch feilte und damit neue Maßstäbe für
die Geschmeidigkeit und Ausdrucksfähigkeit des modernen
Neugriechisch setzte, erschien erst 1955 in Athen. Ebendort starb
Stratis Myrivilis 1969.
Die zunehmende zeitliche Entfernung, aber auch künstlerische
Absichten, nicht zuletzt der Nachdruck auf der Absurdität
und Tragik des Geschehenen bewirkten, dass Myrivilis in seinem Roman
lediglich als Herausgeber in Erscheinung tritt: zufällig
findet er, so beginnt "Das Leben im Grabe", in der Hinterlassenschaft
des Soldaten Antonis Kostulas einen größeren Stapel
von diesem klein und eng beschriebener Papiere, die ihm wie "ein
armer Leichnam, der zu sprechen drängte" erscheinen.
An den ehemaligen Kameraden erinnert er sich als an "einen
echten Mann, aber reserviert und wohlerzogen wie ein Mädchen".
Er weiß überdies, wie dieser gestorben ist und
enthält uns die Details nicht vor: bei der Stürmung
eines bulgarischen Schützengrabens als Teil eines
"Säuberungskommandos" wurde Antonis durch freundliches Feuer,
wie man heutzutage gerne sagt, konkret beim Flammenwerfereinsatz eines
französischen Soldaten, der zu diesem Zeitpunkt in seiner
Zurechnungsfähigkeit durch ein in seine Gedärme
gefahrenes bulgarisches Messer stark beeinträchtigt war,
verbrannt. Gerichtet sind alle beschriebenen Papiere des Nachlasses an
eine nicht identifizierbare Frau, sodass der Herausgeber meint, dass
diese Aufzeichnungen "irgendwie allen Frauen
gehören, die der Krieg berührt hat, ja letztlich
jedem menschlichen Wesen, das vom Widersinn des Kriegs erfüllt
seine Hände bettelnd ausstreckt nach der Liebe."
Der Roman folgt weitgehend chronologischer Ordnung und besteht aus
zwei- bis zehnseitigen Kurzkapiteln mit beredten Titeln ("Die
Gespensterstadt", "Die Asketen der Lust", "Artillerieduell", "Ein Brief
von der Insel", "Kriegsgericht" etc). Diese behandeln nach Art
wohlkonstruierter, für sich stehen könnender
Kurzgeschichten Episoden, Stationen, Personen des
Kriegszugs: die Schiffsüberfahrt aufs Festland und die
Gewaltmärsche, das Ausheben von
Schützengräben und das "Leben" in ihnen,
Kriegsalltag und Zeitvertreib, Desertion und
Erschießung, den ersten getöteten Feind und den
ersten Giftgasangriff, kameradschaftliche Freundschaften und
Abneigungen - über all dies wird in den hinterlassenen
Papieren genau und
schonungslos Bericht erstattet, reflektiert, fantasiert
und
filosofiert.
Die beschriebenen Unmenschlichkeiten wirken umso stärker, als
es sich bei dem Erzähler um einen sensiblen
Menschen mit viel Sinn für Schönheit und (wohl durch
die ständige Todesgefahr vertiefte) Empfänglichkeit
für lyrische Stimmungen handelt - so bedarf es nicht mehr als
einer zwischen zwei Sandsäcken aufblühenden
Mohnblume, um eine befreiende Tränenflut in ihm
auszulösen. Von der Richtigkeit seines Tuns längst
nicht mehr überzeugt, hat er andererseits noch nicht zum
völligen Unglauben gefunden und beobachtet indessen aufmerksam
und mit Anteilnahme, was es zu beobachten gibt,
insbesondere seine Kameraden.
Die Antriebe der Soldaten, sich der Freiwilligenarmee
anzuschließen, sind nicht selten materieller Natur
– die Daheimgebliebenen in diesen schwierigen Zeiten mit dem
ihnen geschickten Sold einigermaßen am Leben zu erhalten,
doch vielleicht hat es bei Vielen an der Wurzel, zu Beginn, als
Befreiungspathos noch vor Söldnertum kam, ähnlich
idealistisch wie beim Erzähler begonnen: "Eine
Revolution. Für die Freiheit zu kämpfen! Für
die unterdrückten Griechen in Anatolien und Thrazien.
Für alle Unterdrückten. Oh ja! Immer lohnt es sich,
für die Freiheit und für die Unterdrückten
zu kämpfen. In jedem Unterdrückten ist auch ein Teil
unserer eigenen Unterdrückung. Aber zunächst
müssen wir den König stürzen ..."
Bald schon freilich, nach den ersten größeren
Unstimmigkeiten, Widersprüchen und Zweifeln,
äußerst fragwürdigen Entscheidungen von
Vorgesetzten, Übergriffen angeblich verbündeter
Serben auf Griechinnen, von Gasbomben getöteten Kindern, die
von den verbündeten Franzosen stundenlang liegengelassen,
fotografiert
und gefilmt werden, ist die Rede davon, dass
"etwas in uns zu zerbrechen beginnt", ein Prozess,
der bei den Meisten mit fortdauerndem Krieg trotz der
Gewöhnungseffekte weiter zunimmt. Einiger dieser
unglücklichen Kameraden, vor allem gefallener, die
solchermaßen nicht nur den äußeren Feind,
sondern auch inneren Zwiespalt zu bekämpfen hatten
(und
mit der großen Offensive am Ende des Romans nicht nur die
Frontlinie durchbrechen, sondern auch ihre privaten Probleme
lösen wollten), wird in eigenen Kapiteln gedacht, und auch
manch einer von den wenigen Skrupellosen, vor allem Offiziere ("Man
ist stolz, aus Lesbos zu sein, allein weil dieses Ungetüm auf
unserer Insel einherstolziert.", heißt es etwa
über den befehligenden General) und Zyniker ("Ja,
für meine Kinder! Auf alles andere scheiße ich
nämlich. Auf alles, verstehst du!") erfährt
eine Art Würdigung.
Als besonders drastisches Beispiel für einen "Heldentod", der
sich in Wirklichkeit ganz anders zutrug, wird der Fall eines Soldaten
angeführt, welcher in einem aufgelassenen Abort, der statt mit
großen Steinen gefüllt worden zu sein, nur
oberflächlich mit Erde bedeckt wurde, ertrinkt, dessen Eltern
sicherlich ein Gratulationsschreiben zu ihrem Sohn in der Art erhalten
haben, dass dieser "mit unvergleichlicher Tapferkeit,
würdig der griechischen Tradition, für Glauben und
Vaterland gegen den Feind kämpfend fiel: Wenn du nun die
Wahrheit sagst, wird alles gemein. Stell dir vor, er hätte
z.B. geschrieben: Safiriu starb im tapferen Ringen mit der alliierten
griechisch-französischen Scheiße. Leider war es ihm
im Zeitpunkt seines ruhmvollen Todes nicht vergönnt
auszurufen: 'Es lebe das Vaterland!', da ... nun ja ... da er den Mund
voll hatte."
Bei aller Düsternis und Bitterkeit schätzt der
Erzähler umso mehr die heiteren Seiten des Lebens, so rar sie
mitunter sein mögen, so findet sich dank eines
humanistisch gebildeten russischen Offiziers auch ein echter
neugriechischer Klassiker in dem Buch: "Er stellte sich in
Positur und rezitierte mir etwas Unverständliches, was, wie er
mir versicherte, Homer
war und zwar im Urtext."
Den krassen Widerspruch zwischen der Wirklichkeit des Krieges und
seinem Bild in der Öffentlichkeit aufzuzeigen, war gewiss
nicht Myrivilis' geringstes Ziel. "Das Leben im Grabe" ist ein
literarisch hochwertiges leidenschaftliches Plädoyer gegen den
Krieg und ein ebensolches für den Wert des Lebens.
(fritz; 01/2017)
Stratis
Myrivilis: "Das Leben im Grabe"
(Originaltitel "Η ζωή εν
τάφω")
Übersetzung aus dem Griechischen von Ulf-Dieter Klemm.
Romiosini.
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Ein
weiteres
Buch des Autors:
"Die Madonna mit dem Fischleib"
Die kleine Smaragdí gilt allen in ihrem Dorf als
bezaubernder «Nixenfindling». Als sie zur Frau
heranwächst, muss sie jedoch erfahren, dass ihr exotisches
Wesen einen gefährlichen Reiz besitzt. Dem
abergläubischen Inselvolk erscheint sie als Verlockung und
Verhängnis zugleich.
Im Mittelpunkt des Romans steht das Schicksal eines Findlings. Die
kleine Smaragdí empfängt bei ihren Zieheltern Liebe
und Zuneigung, sie begegnet schlichter Daseinsfreude und
anrührender Herzensgüte. Doch allzu früh
lernt sie auch die dunklen Seiten des Lebens kennen: die Rohheiten und
grausamen Verfehlungen geliebter Menschen.
Am
eigenen Leib muss Smaragdí erfahren, dass ihr neues Zuhause
- die äolische Insel Lesbos - kein idyllisches Arkadien ist,
sondern eine Welt voll triebhafter Gewalt. Ihr exotisches Wesen
verleiht ihr einen verhängnisvollen Zauber: Mit ihrem goldenen
Haar und dem unstillbaren Drang, sich tief in die kristallenen
Meeresfluten zu stürzen, gilt sie den Einheimischen als
Nymphe, die allen, die sie lieben, erst höchste
Erfüllung und dann abgrundtiefes Verderben bringt.
Stratis
Myrivilis hat in seinem hellenischen Schlüsselroman kunstvoll
Realistisches, Mythisches und Parabelhaftes ineinander verflochten. Die
lebensnahen Bilder des Insellebens sind dicht durchwoben von einer
dreitausendjährigen Tradition, von antiken Legenden und
uraltem Volksglauben. So trägt die von den Fischern und
Ölbauern verehrte Madonna mit dem Fischleib sowohl
Züge der Gottesmutter als auch solche der sagenumwobenen
Meernixe, ist Wohltäterin und Rächerin zugleich. (Manesse)
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(...) Wenn die Lügen einmal vorbei sind, überlege ich, und wir vor den Herrn treten, den Schöpfer Himmels und der Erde, wird Er, der uns geschaffen hat, uns voll Zorn fragen:
"He, ihr Krüppel da unten, Ihr Buckligen! Ihr mit den krummen Körpern und den schiefen Kiefern, ihr Blinden, Schwindsüchtigen und Gelähmten, Ihr Gestauchten, ihr Verkümmerten, ihr Schwachsinnigen! Ihr mit den Krücken und dem schielenden Glasauge! He, ihr Verfallenen und Hässlichen! Ihr mit dem Blechstückchen auf der Brust! Sagt mir, wer seid ihr, und wo kommt ihr her? Was habt ihr mit den Gaben gemacht, die ich euch anvertraute? Wo sind die Augen, die vor Liebeslust blitzten, wo sind die Haare, die schwärzer waren als die dunkelsten Trauben? Was ist aus den Gestalten geworden, die ich schlank und biegsam wie den Eschenholzspeer geschaffen habe, der sich vom Fischer geschleudert, zitternd in den Meeresgrund bohrt? Eure stählernen Arme, haben sie die schöpferische Arbeit genossen? Haben sie neue Wege zum Glück aufgetan? Haben sie blonde, rotwangige Kinder getragen? Haben eure starken Hände die Pflugdeichsel umspannt und die feste Brust der Frau? Haben eure Lippen Lieder geschmettert und Küsse getrunken? Eure kräftigen Beine, sind sie durch die Wiesen des Lebens geeilt? Haben sie auf dem Tanzplatz gewirbelt? Haben eure sehnigen Knie das Weib umklammert? Habt ihr das neue Leben in seinen geheimnisvollen Schoß gelegt, in dem die Lust neben der Zeugung wohnt? Sprecht, wie habt ihr meine Gaben genutzt?"
Und nachdem wir in möglichst korrekter Hab-Acht-Stellung die Ansprache des Herrn angehört haben, werden wir bei der Berichterstattung des Regiments nacheinander salutieren und Ihm mit der nötigen Bescheidenheit, die in den gedruckten Geschichten alle Helden zur Schau tragen, "gehorsamst" erwidern:
"Herr, Herr wir haben mehr getan als das, wonach Du uns fragst. Sieh hier die Streifen und Bänder! Sieh die Orden und Narben, die Reihe der silbernen Winkel - ein jeder bedeutet ein halbes Jahr im dunklen Graben! Sieh die 'Auszüge aus den Tagesbefehlen', die 'lobenden Erwähnungen', und ähnliche wunderbare Dinge! All das sind Bescheinigungen, Herr, dass wir für die 'Freiheit der Völker' gekämpft haben! Unsere Jugend? In jenem Graben, an jener Höhe haben wir sie weggeworfen. Unsere Jahre? Die haben wir in einer Gruft gebückt, durch Gräben kriechend und unter Eselslasten von Eisen und Mordwerkzeug gebeugt, verbracht. Unser Rückgrat, schau, wir bringen es Dir, wie einen Bogen gespannt, zurück! Unsere Rücken sind vom Liegen in den Lazaretten wund. Unsere Beine hat die Granate abgeschlagen, haben Gicht und Frost gelähmt! Unsere Augen haben alle entsetzlichen und hässlichen Dinge gesehen, unsere Hände haben Höhlen und Gräben zum Verstecken gegraben, weil wir vor Angst zitterten. Auch Gräber haben wir ausgehoben, viele Gräber und Latrinen. Die ganze Menschheit hat Eisen und Feuer in die Hände genommen und die eine Hälfte hat die andere ausgerottet. Unsere Hände haben die Handgranate umspannt, die härter ist als eine Mädchenbrust. Hier bitte! Sie sind noch schwarz vom Blut, das zwischen den Fingern klebt! Frauen haben wir nicht gekannt. Kinder nicht gezeugt. Unsere Braut war das Vaterland, unsere Kinder die Maschinengewehre. Den Samen Deiner Schöpfung haben wir zusammen mit unserem Blut auf die Erde ergossen. Korn haben wir nicht gepflanzt. Aber die öden Berge durchpflügt und die Erde mit Stacheldraht umwickelt wie ein Knäuel. Jung sind wir gestorben aber 'ruhmvoll'. Zweifellos sind wir wirkliche Helden. Balafaras hat es uns bestätigt. Jeder von uns hat den 'schönen Brief' der Division in der Tasche. 'Halbgötter' sind wir! Alle Zeitungen Athens und der Provinz haben es in spaltenlangen Leitartikeln erklärt. Wir erwarten jetzt die Belohnung, Herr, die uns der Divisionspriester in Deinem Namen versprochen hat. Schließlich sind wir für 'Glauben und Vaterland' gefallen."
Da wird der Herr Seine heilige Hand in Abscheu gegen uns spreizen und rufen: "Hinweg mit euch, ihr elenden Wichte! Auf meine teuersten Gaben habt ihr gespuckt, ihr Unglückseligen, zum Fluch sollen sie euch werden! Auf den dunkelsten Grund des kältesten Meeres mit euch, damit ich euch nicht mehr sehe! Zu Schwämmen werde ich euch alle machen, damit ihr dort für alle Ewigkeit hocken bleibt, bis ich sehe, ob es noch etwas Dümmeres gibt als euch. Hinweg!"
Und während wir noch so exakt wie möglich salutieren "rechte Hand geschlossen mit Fingern am Stahlhelm, Ellbogen in Schulterhöhe, die linke Hand am Oberschenkel, der kleine Finger an der Hosennaht", finden wir uns plötzlich, Tausende, Millionen von Helden des Schützengrabens, auf dem Grund der tiefsten, schwärzesten See als Schwämme wieder, dort, wo es weder Licht gibt noch Verstand. Ein unermessliches, dunkles Unterseegefilde wird sich plötzlich millionenfach mit heldischen Schwämmen füllen. Und sogleich werden sich unsere glitschigen, schleimigen Glieder gleichmäßig und gehorsam, nach links und nach rechts, hin, her, im Rhythmus des schlammigen Wassers bewegen.
- Ein, zwo, drei, vier. Eins, zwo, drei, vier!
Und das wird so gehen bis in alle Ewigkeit. Amen.