Adolf Muschg: "Der weiße Freitag"

Erzählung vom Entgegenkommen


Auf Leben und Tod

Im Herbst 1779 bricht der dreißigjährige Goethe mit seinem Arbeitgeber, dem zweiundzwanzigjährigen Herzog Carl August zu seiner zweiten Reise in die Schweiz auf. Sie durchqueren Deutschland, den Rhein hinauf bis Straßburg. Von dort geht es in die Alpen. Das Ziel ist der Gotthard. Die beiden geübten Reiter genießen das Panorama und erreichen die letzte Herberge vor dem Pass im November. Zu diesem Zeitpunkt ist der Weg über den Furka-Gletscher jedoch komplett verschneit. Die Sicht ist schlecht, nichtsdestotrotz riskieren die beiden in Begleitung eines Gepäckträgers und zweier Bergführer die Weiterreise und somit auch den Tod. Wie das geschichtlich belegt ist, gelingt den beiden erfreulicherweise der Aufstieg.

"Der Gletscher stürzte scheinbar unaufhaltsam von oben, die Klippen an seiner Stirn standen wie gefrorene Gischt, und aus Spalten und Klüften zündete ein unirdisches Vitriolblau. Aber der Strom war erstarrt, und gut ließ sich erkennen, wo wieder fester Boden begann. Hier hatte sich frischer Schnee auf ein Durcheinander rundgeschliffener Felsblöcke gesetzt, zwischen denen der Abfluss, den Augen verborgen, nur dem Ohr vernehmbar, seinen überstürzten Weg in die Tiefe suchte."

Der Frage nach dem Warum geht Adolf Muschg in seinem Roman "Der weiße Freitag", dem er den Untertitel "Erzählung vom Entgegenkommen" gegeben hat, nach. Als Kontrapunkt lässt er der Gruppe mehrere Jahrhunderte später die Erzählerfigur entgegenkommen. Von der anderen Seite wohlgemerkt, natürlich auch bequemer und nicht unbedingt das Leben riskierend.

Für Goethe ist es sozusagen eine Flucht aus dem Weimarer Leben, für Muschg das Aufarbeiten seiner Krebsdiagnose. Auf der einen Seite skizziert Adolf Muschg die Überarbeitung des Ministers, der als Dichter mit seinen Erwartungen kämpfen muss. Auf der anderen Seite die eigene Herausforderung, mit der Diagnose und den schwindenden Kräften diesen Kraftakt zur Selbstbestätigung zu schaffen. Wirklich beeindruckend, wie sich Muschg durch einen simplen Sturz eine Treppe hinab ins Geschehen dieses Doppelromans, wie man dieses Buch wahrscheinlich bezeichnen könnte, einführt.

"Carl August war schon in der Stunde seiner Geburt im Schloss Belvedere ein besorgniserregendes Kind, das die Rute spüren musste, damit es Lebenszeichen von sich gab. Sein erster Schrei war nur das Vorspiel des herzoglichen Trotzes, der in Weimar noch Epoche machen sollte - auch in der Beziehung zu Mutter Anna Amalia, von der das Kind anfangs, standesüblich, rasch entfernt wurde, um an die Brust der Amme gelegt zu werden."

Während er Belegtes mit Erfundenem bzw. Vermutetem vermischt, ist schon eindeutig, dass das wirklich Große an diesem Buch die Prosa selbst ist. Muschg schreibt, wie erwartet, stilistisch einfach berauschend. Fast ein wenig altmodisch in ihrer selbstauferlegten Strenge, findet man hier keine einzige Flapsigkeit, selbst die Dialoge sind von einer künstlerisch pointierten Präzision, so dass man, anders als beispielsweise bei Ernest Hemingway, dessen Dialoge oft der Motor seiner Handlungsentwicklung waren, hier zuhört, in sich geht und überlegt, was Muschg über diese Äußerung seiner Protagonisten wirklich sagen will. Das ist immens stark und bremst den Lesefluss erheblich ein. Doch das soll bei diesem Autor kein Minuspunkt sein, wer Muschg als Lektüre wählt, weiß meist genau, was er am wohl wichtigsten lebenden Schweizer Autor so schätzt, dass er ihn entgegen aller Moden immer wieder aussucht. Penibel auch die feinen stilistischen Unterschiede in den unregelmäßig wechselnden Kapiteln der beiden durch 237 Jahre getrennten Reisen.

"Aber, so Wedel, erwachsene Frauen müssten ihm immer wie ein Trostpreis vorgekommen sein, ein zärtliches Pflichtstück, während er die wahre Kür mit den Kindern feierte, als großer Kindskopf unter vielen kleinen. Eigentlich suchte er die Mütter nur wegen der Kinder."

Auch wenn die eine oder andere, meist die Sexualität betreffende Sache eher befremdlich erscheint, auch mitunter unnötig für diese Doppelerzählung per se, so wird selbst der an literarischer Aufarbeitung einer Reise Goethes gar nicht interessierte Leser dank Muschgs Prosa dem abwechslungsreichen Sog dieser Erzählung nicht mehr entfliehen können. Die verschiedenen Teile, die sich mit der Kindheit oder anderen Lebensetappen Adolf Muschgs beschäftigen, sind wunderbar elegant in das Gesamtbild eingebettet. Trotz aller Komplexität mancher Passagen ist es letztendlich die Leichtigkeit, mit der Muschg diese existenziellen Überlebenskämpfe schildert und miteinander kombiniert, die dieses Buch zu einem wahren literarischen Genuss werden lässt.

(Roland Freisitzer; 03/2017)


Adolf Muschg: "Der weiße Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen"
C.H. Beck, 2017. 251 Seiten.
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