Thomas Mulitzer: "Tau"
Zwischen
Frost und Tau liegen Zeiten und Welten
Aus allerlei Erlebnissen und vor allem Gedanken eines jungen
Teilzeitrückkehrers in die heimatliche Provinz und mehr oder
weniger deutlichen Anklängen an Thomas Bernhards Biografie,
Erzählstrukturen (womöglich bringt bereits der
Eröffnungssatz des Romans den inneren Thomas Bernhard zum
Singen?) und Motive braute Thomas Mulitzer seinen Romanerstling, der
spielerisch Bekanntes mit Überraschendem, Erdachtes und
Wirklichkeit kombiniert und darüberhinaus heitere bis
bedrückende entlarvende Einblicke in aktuelle Gemeinsamkeiten
wie auch Unterschiede von Wien und Weng, von Schriftstellern einst und
jetzt, liefert.
Der am 1. Juli 1988 geborene Musiker und Autor wuchs in Goldegg im
Pongau auf, er lebt und arbeitet in Salzburg. Sein Debütroman
ist innerhalb eines Jahres entstanden.
Während in Thomas Bernhards erstem Roman "Frost", verfasst im
Jahr 1962, erschienen anno 1963 im "Insel-Verlag", ein Medizinstudent
einen kranken Kunstmaler im Auftrag von dessen Bruder aufsucht und
seine Beobachtungen in Tagebucheintragungen niederschreibt,
stöbert in "Tau" ein junger Mann Thomas Bernhards
Machenschaften nach und hält das Gewesene ebenfalls in
täglichen Aufzeichnungen fest.
"Frost ist nichts als der Tau von morgen."
(S. 153)
Der namenlos bleibende Icherzähler begibt sich also in das
Heimatdorf seiner Großeltern, um im Auftrag Professor Lavies
möglichst viel über "den Autor"
und "das Buch" in Erfahrung zu bringen, gilt es
doch unter Anderem, die womöglich bislang unterschlagene
Bedeutung der Großmutter für Thomas Bernhards Roman
"Frost" zu erkunden. Im Zuge seiner zunächst eher
nachlässig betriebenen Recherchen wandelt der
Icherzähler in seinen eigenen Kindheitsfußstapfen
und nähert sich Schritt für Schritt in Vergessenheit
geratenen Aspekten seines Lebens sowie den Erlebnissen jenes
Schriftstellers, dessen Roman "Frost" vor Jahrzehnten
für Aufsehen gesorgt hat, und zwar nicht nur in der als
Schauplatzinspiration fungierenden Gebirgsortschaft Weng. Touristen,
Lufthungrige und Literaturbeflissene schnüffeln seit jener
Zeit noch genusssüchtiger in jener Gegend herum, doch die
einst bloßgestellten Einheimischen, ob alt, ob jung, sind
eine verschworene Gemeinschaft mit besonderen Verhaltensformen
geblieben.
Die Notizen des bei seinem lebenserfahrenen verwitweten
Großvater wohnenden Erzählers bannen die Ereignisse
und Überlegungen von siebenundzwanzig Tagen in Worte und
bewirken dergestalt angemessene Unmittelbarkeit: Dorfgeschichte und
Dorfgeschichten, der Alltag zwischen Kirchenglocken und
Besäufnissen, Sonntagsmessen unter der Leitung des
tierkundebegeisterten "Schweindlpfarrers",
tragische aktuelle und lang zurückliegende
Unglücksfälle, das kurzzeitige Wiederaufflammen einer
alten Beziehungsgeschichte, amüsant geschilderte Auf- und
Vorführungen aus dem Bereich des Literaturbetriebs,
wüste Nächte mit zwei Germanistikstudentinnen. Es
geht naturgemäß auch um das Schreiben und die
Literatur, Geheimnisse und Neugier, Illusionen und
Ernüchterung, Sitten und Gebräuche, gelebten
Katholizismus, Jugendtorheiten und Reifung,
Geschichtsverständnis, Landschaft und Natur, Selbsttherapie,
Wein, Weib und Gesang, um Geistesmenschen und Andere, wobei manche
Rätsel und Geheimnisse immerhin unnahbar bleiben.
"Tau" ist ein flotter zeitgeistiger Heimatroman mit Anspruch und Humor,
freilich kein nationalliterarischer sprachgewaltiger
Ungemütlichkeitsurknall wie Thomas Bernhards "Frost" es anno
1963 war.
(kre; 10/2017)
Thomas
Mulitzer: "Tau"
Kremayr & Scheriau, 2017. 288 Seiten.
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Buchtipps:
Susanna Löffler: "Ich bin ja ein musikalischer Mensch. Thomas
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Thomas Bernhards Liebe zur Musik
fließt in sein literarisches
Werk äußerst vielgestaltig ein. Musiker, Komponisten
und deren Werke inspirieren Bernhard
und sind mehrfach Basis der thematischen oder strukturellen
Disposition. In den Theaterstücken übernimmt die
Musik eine dramaturgische Funktion, weil Bernhard mit der
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überwindet.
Susanna Löffler untersucht Bernhards musikalische
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zeigt, dass des Autors musikalische Bezugnahmen weit über ein
bloßes Aufzählen hinausgehen und Teil eines genau
durchdachten, in allen Details abgestimmten Konzepts sind.
(Böhlau)
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"Was
reden die Leute.
58 Begegnungen mit Thomas Bernhard"
Aufgezeichnet von Sepp Dreissinger.
Wer war Thomas Bernhard? Misanthrop oder Gesellschaftsmensch? Zyniker
oder warmherzig? Wie erinnern sich die, die ihm nahe kamen, heute?
Mehr
als 60 Menschen hat Sepp Dreissinger, Fotograf, Filmemacher und
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Ein Großteil dieser faszinierend verschiedenartigen Stimmen
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einen lebendigen Nachhall seiner Persönlichkeit. Eingeleitet
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vielstimmigen Chor eine Nahaufnahme der "Sphinx von Ohlsdorf"
zusammen,
die auch für Liebhaber und Kenner Neues und
Überraschendes bereithält. (Bibliothek der Provinz)
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Matthias
Reiner,
Raimund Fellinger (Hrsg.): "Thomas Bernhard. Sein Leben in Bildern
und
Texten"
Thomas Bernhard zählt zu den meistkommentierten
deutschsprachigen Schriftstellern: Ob in Zeitungen, wissenschaftlichen
Periodika, als Dissertation oder als Gesamtdarstellung, als
biografische Versuche oder fotografische Teilansichten - unter allen
Aspekten wird er Gegenstand mehr oder weniger kompetenter Analysen,
und
das weltweit. Die Monografie bietet in Bildern und Texten zum ersten
Mal gleichermaßen verlässliche wie
überraschende Einsichten in das Werk und dessen
Entstehungsbedingungen, vermittelt völlig unbekannte
Aufschlüsse über sein Leben sowie fundierte Aussagen
zur nationalen und internationalen Rezeption. Die Dokumente und
Erklärungen sind für jedermann nachvollziehbar,
kommen ohne germanistisches Gerede und Stereotypen aus.
Dies ist möglich geworden, da den Herausgebern als bisher
einzigen der gesamte Nachlass Thomas Bernhards zugänglich ist.
Auf diese Weise sind spannende Einblicke in die Genese einzelner Werke
möglich, der (nicht unbeträchtliche) Briefverkehr
vermittelt Informationen über die Kontakte mit Kollegen,
Kritikern und Freunden, wird die Mythisierung des Bernhardschen Lebens
durch den Autor wie durch sogenannte Zeitgenossen und Biografen
durchleuchtet.
Die Bildmonografie löst sich von der strikten chronologischen
Darstellung. Sie verfolgt vielmehr in zwölf Kapiteln bestimmte
Komplexe des Oeuvres durch die drei Jahrzehnte des Bernhardschen
Schaffens. (Suhrkamp)
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Micaela Latini: "Die Korrektur des Lebens.
Studien zu Thomas Bernhard"
Dieses Buch analysiert das Thema des Scheiterns, das der
österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) in
seinem literarischen Werk gestaltet, beginnend mit dem Roman "Das
Kalkwerk" (1970), über "Beton" (1982) und
"Auslöschung" (1986) bis hin zu "Alte Meister" (1985). An
Stellen, an denen Bernhard sich über seine Figuren zum Thema
der "Aufgabe" bzw. deren Nichtgelingen äußert, soll
das Potenzial des Scheiterns selbst zum Gegenstand von
Überlegungen gemacht werden: ein Scheitern, das nicht etwa als
schöpferisches Unvermögen abgetan, sondern als
Gelegenheit verstanden werden soll, das Leben in seiner ganzen
theoretischen Fülle, in seinem möglichen Sinnumfang
zu überdenken. (Königshausen & Neumann)
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Matthias Knopik: "Die Geburt der
Finsternis. Thomas Bernhards Roman Frost:
Entstehung - Wirkung - Interpretation"
Finsternis ist ein zentraler Begriff im Werk Thomas Bernhards - als
thematische Rahmung, aber ebenso als "hermeneutisches Ereignis"
innerhalb der Texte, als Verfinsterung von Welt durch Sprache, deren
Sogwirkung mit einem unauflösbaren Rätselcharakter
korrespondiert. Der Autor widmet sich der Entstehung dieser
finsteren
Welt. Erstmalig wird Bernhards Debütroman "Frost" anhand der
bisher unveröffentlichten Typoskripte und Entwürfe
mit scharfer textkritischer Aufmerksamkeit umfassend ausgewertet und
poetologisch erschlossen. Durch minutiöse Beobachtung wird
gezeigt, wie Bernhard das zum Topos gewordene Wort der
Auflösung durch eine erwartungs- und sinndestabilisierende
Sprache konstituiert und so seinem Text ein Gepräge der
Entdeutlichung verleiht. Die sich dadurch bei den Romanfiguren (und
Lesern) einstellende Verstörung erstreckt sich auf
verschiedene, im späteren Werk immer wiederkehrende Motive wie
Krankheit, die Geschwisterbeziehung, das Verhältnis
Naturwissenschaft/Kunst, religiöse Symbole,
schließlich den Selbstmord,
die präzise untersucht
werden. Damit wird "Frost" erstmalig durch ein textkritisches
Verfahren
und vor dem Hintergrund des Entstehungsprozesses analysiert, die
bisherige Forschung kritisch hinterfragt und so ein Einblick in die
Bernhardsche Arbeitsweise gewonnen. (Königshausen &
Neumann)
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Thomas Bernhard: "Frost"
Ein Medizinstudent nimmt den Auftrag an, den Kunstmaler Strauch zu
beobachten, der sich in das Gebirgsdorf Weng zurückgezogen
hat. In seinen Aufzeichnungen hält er die Monologe und
Visionen Strauchs fest, bis er entdeckt, dass diese Begegnung, die
er
bewältigen zu können glaubte, ihn selbst
überwältigt.
"Eine Famulatur besteht ja nicht nur aus dem Zuschauen bei
komplizierten Darmoperationen, aus Bauchfellaufschneiden,
Lungenflügelzuklammern und Fußabsägen, sie
besteht wirklich nicht nur aus Totenaugenzudrücken und aus
Kinderherausziehen in die Welt." Mit diesem Satz beginnt der
erste Roman von Thomas Bernhard. "Frost" erschien im Jahr 1963 und
bildet den Ausgangspunkt des weltliterarischen Kontinents dieses
Autors. Bis zur Veröffentlichung von "Frost" war Thomas
Bernhard nur einem kleineren Kreis vor allem als Lyriker bekannt.
Sein
Romandebüt kam jedoch nicht so unverhofft, wie es damals den
Anschein hatte. Der Nachlass des Autors im "Thomas-Bernhard-Archiv"
in
Gmunden zeigt, dass dem Roman, der Thomas Bernhards Weltruhm
begründen wird, mehrere große Prosaversuche
vorausgehen. Die Niederschrift von "Frost" selbst wurde Anfang 1962
begonnen und im September desselben Jahres beendet. (Suhrkamp)
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