Harry Mulisch: "Höchste Zeit"


Theater, Zeiten, Klischees und Schicksale: Vorhang auf!

"Natürlich, er durfte nicht einfach Prospero spielen, sondern Pierre de Vries, der Prospero darstellte - und gleichzeitig, während er das tat, war ihm, als sei er einfach er selbst. Oder verhielt sich die Sache so, dass er dadurch er selbst wurde, dass er Pierre de Vries spielte, der Prospero darstellte?"

Die Handlung dieses im Original anno 1985 erschienenen Romans ist im Theatermilieu angesiedelt und bietet ineinander verschachtelte Bühnenstücke, Schicksale und eigenwillige Protagonisten. "Höchste Zeit" wurde übrigens zehn Jahre nach der Veröffentlichung unter der Regie von Frans Weisz mit Rijk de Gooyer in der Rolle des Willem Bouwmeester verfilmt.
Nach Harry Mulischs Tod am 30. Oktober 2010 führte Dieter Kassel am 1. November 2010 ein Telefongespräch für den "Deutschlandfunk Kultur" mit dem Schriftsteller Cees Nooteboom, der den deutschsprachigen Lesern im Verlauf der Unterhaltung einige Bücher Mulischs besonders ans Herz legte, darunter "Höchste Zeit": "Es gibt 'Höchste Zeit', das ist ein Theaterbuch, ich meine, ein Roman, der über einen Schauspieler, der im Krieg - wieder das Kriegsthema -, im Krieg an der falschen Seite gestanden hatte. Es ist aber ein wunderbarer Roman."

Harry Mulisch war in seiner Jugend selbst kurz als Amateurschauspieler und Theaterkritiker tätig, sein späterer Versuch, erfolgreich als Theatermacher zu wirken, missglückte allerdings. Entsprechende Erfahrungen und Erlebnisse fanden wenig überraschend Eingang in den Roman "Höchste Zeit", dessen Schärfe und Eindringlichkeit bis heute bestechen.
Dem Theatermilieu mit seinem Oszillieren zwischen Schein und Sein, Wirklichkeit und Fiktion, fühlte sich Harry Mulisch zeitlebens verbunden, er verfasste auch Dramen, darunter z.B. "Tanchelijn" (1960), "De knop" (1960) und "Axel" (1977). Mulischs Tochter Frieda fand anno 2016 in seinem Arbeitszimmer ein 1952 begonnenes unvollendetes Theaterstück mit dem Titel "Het Twaalfde Huis van Monsieur Zimbalist", und gemeinsam mit dem belgischen Schriftsteller Hugo Claus (1929-2008) verfasste Mulisch einst gar das Libretto zu einer kommunistischen Variante von "Don Giovanni".

"Rasch, Herr de Vries! 's ist Zeit! Die höchste Zeit! Schnell! Gehn Sie schon, mein Herr! 's ist höchste Zeit!"

Uli (eigentlich Willem) Bouwmeester, längst in der Versenkung verschwundener 78-jähriger Spross und schwarzes Schaf einer in den Niederlanden berühmten Schauspielerdynastie, hat durchaus schon bessere Zeiten gesehen. Seit Jahren lebt er verwitwet und kinderlos, in passabler, jedoch keineswegs immerzu wonniger Atmosphäre mit seiner jüngeren Schwester Berta und dem Pudel Joost in einer gesichtslosen Neubausiedlung, gibt sich abgestumpft dem gleichförmigen Alltag hin und hat den Glauben an irgendeine Zukunft sowie das Interesse an der Welt verloren.

Doch eines Tages reißt ihn ein Brief aus der Lethargie: Ihm wird die Hauptrolle als Pierre de Vries im Theaterstück "Unwetter" (im Original "Noodweer") von Leo Siderius angeboten, und nach reiflichen Überlegungen sowie dem von Berta listig inszenierten Besuch zweier enthusiastischer Männer vom Amsterdamer Amateurtheater "Kosmos" sagt der ehemalige Revuekünstler, einstige katastrophale Regisseur der Amateurtruppe "Durch Anspannung Entspannung" und vormals glücklose Geschäftsführer eines üblen Nachtclubs geschmeichelt, auch aus aufkeimendem Verlangen nach Abwechslung, zu und kehrt quasi ins (Schauspieler-)Leben zurück. Dies jedoch auf einem anderen Niveau, als er es von früher kennt.
Genüsslich nimmt er an den endlosen Proben teil, studiert seine Rolle vorbildlich ein, fühlt sich unter Seinesgleichen unsagbar wohl, doch das Alter macht ihm merklich zu schaffen. Auch die selbstbewusste Theaternudel Berta ergreift bei guter Gelegenheit selbige beim Schopf und betätigt sich fortan als Impresario des Pudels, der ebenfalls in das Theaterstück geholt wird.

Im Hintergrund braut sich auf mehreren Ebenen ein Sturm (nämlich nicht nur der von Shakespeare ersonnene) zusammen: In Rückblicken werden zentrale Aspekte von Ulis Vergangenheit, speziell zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, enthüllt, und prompt wird ihm sein damaliges Verhalten im Zuge eines wenige Tage vor der Premiere stattfindenden, skandalös verlaufenden Fernsehinterviews beinahe zum Verhängnis. Nach dem für Turbulenzen sorgenden Interview wird Uli vom umsichtigen Direktor des "Kosmos" zu einem Vieraugengespräch gebeten, und der Direktor weiht den betagten Schauspieler in besondere Geheimnisse seiner höchst individuellen Kunsttheorie, speziell des japanischen No-Theaters, ein ...

Es sind Zeiten des revolutionären Umbruchs innerhalb der Theaterwelt, gewissermaßen bleibt kein Stein auf dem anderen, und Willem Bouwmeester muss sich in der veränderten Umgebung, sowohl in Amsterdam, als auch auf den Brettern, die die Welt bedeuten, erst zurechtfinden. Doch ein Schauspieler, zumal ein Bouwmeester, muss bekanntlich eben alles können! Freilich merkt man, dass die Mühen Uli zusetzen.
Das Gerangel um Subventionen, die mangelnde Wertschätzung der Politiker für die Kunst, Verhältnisse zwischen Schauspielern, Zuneigung und Abneigung, Kunst und Wirklichkeit, Shakespeares "Sturm" als Stück im Stück, das Hickhack zwischen den Darstellern, dem klischeebeladenen, dünkelhaften Autor (selbstverständlich ein Sonderling) und dem Regisseur, die Zweckbündnisse - Bestandteile und Gewürze des großen Ganzen. Man spürt die mit Näherrücken der Premiere wachsende Nervosität, sieht mühselige Proben, Konfrontationen mit dem wunderlichen Autor, erfährt einiges über die Figur/Person des Schauspielers Pierre de Vries, der mit der Darstellung des Prospero anno 1904 seine Abschiedsvorstellung gibt, jedoch in üble Ränke seiner Kollegen gerät, letztlich (zumindest kurzzeitig) triumphal obsiegt.

Für Uli wird der neue Alltag zunehmend rätselhafter, er kommt bislang verschwundenen Erinnerungen an längst vergangene Vorkommnisse auf die Spur und fühlt sich bei alldem Pierre de Vries immer näher. Ungemein zartfühlend und überraschend wohlgesonnen verwebt Harry Mulisch Ulis Geheimnisse und Erinnerungen mit dem Handlungsverlauf: den Tod der Mutter bei Bertas Geburt, Gedanken an den viele Jahre zurückliegenden Auftrag seines unglücklichen Vaters an seinen kleinen Sohn, einen Ring von der Ex-Geliebten La Charlotte einzufordern, die Uli anlässlich der Aufbahrung der einst gefeierten Schauspielerin in den Bann schlagen, an das erregende homosexuelle Abenteuer in einem Berliner Luftschutzkeller, an den ersten Geschlechtsverkehr mit einer Tänzerin, an das Verschwinden seines Dackels Sebastiaan, Erinnerungen an die freudlose Ehe, das qualvolle Sterben seiner Frau und die anschließende Lebensleere ...

Dass Uli gewissermaßen aus der Zeit fällt oder die Zeit verliert, kündigt sich schon früher an, als er nämlich die Zeitumstellung im Herbst vergisst und Wochen später ohne ausreichende Barschaft mit der verehrten Kollegin Stella ein ägyptisches Restaurant aufsucht, nach Herzenslust bestellt und konsumiert, und seine Armbanduhr, das letzte vom Vater verbliebene Erbstück, auf Nimmerwiedersehen als Pfand zurücklassen muss.
Die letzten Tage und Nächte vor der Premiere verlangen dem 78 Jahre alten Uli Bouwmeester einiges ab; er besucht spätnachts Stella auf ihrem Wohnboot, wo sich plötzlich manches in einem anderen Licht darstellt und seine Katzenallergie ausbricht, wird von brutalen Trickspielbetrügern entführt, von einem bei einer missglückten Geschlechtsumwandlung verunstalteten seelenvollen Mitmenschen gerettet und tritt unaufhaltsam in einen anderen Bewusstseinszustand ein, sodass die vor unkonzentrierten Schülern stattfindende Generalprobe als kurioser Kraftakt einen altneuen Geist (Pierre de Vries nämlich!) in ihm weckt. Ein reichlich dubioser Brief (wohl von Leo Siderius) verwirrt Uli zusätzlich, doch das Ende naht mit Riesenschritten. Auch dem Pudel bekommt das Schauspielerdasein nicht, und man ahnt bereits, dass die für den 12. November 1982 angesetzte Premiere ins Wasser fallen wird ...

Nicht selten kündigen in Harry Mulischs Romanen Blitze und Donnerschläge oder Erdstöße abrupte Szenenwechsel an, solcher Effekte bediente sich der Autor oft und gern, auch auf plötzliche Brüche in Handlungsverläufen und mehr oder weniger unvermittelt eingeschobene theoretische Ausführungen über den Schreibenden und das Geschriebene sollte man stets vorbereitet sein, wenngleich man derlei als Ausrede oder auch Entschuldigung betrachten kann.
Dass sich "Höchste Zeit" anschickt, gewohnte Bahnen zu verlassen, erwartet der Mulisch-Kenner eigentlich ohnedies, und tatsächlich lautet eine "zufällig" in den Text eingestreute Passage: "Ja, was geht hier eigentlich vor? Worauf haben wir uns eingelassen? Vielleicht sagt nun jemand, der Mund, der dies frage, sei wohl der letzte, der das fragen dürfe: wenn jemand Bescheid wisse, müsse es doch dieser Frager sein. Leider! Erzähler und Zuhörer stehen gemeinsam dem Erzählten gegenüber, sie müssen einander gut festhalten, denn sie sind gleichermaßen verletzlich. Der Erzähler erschafft das Erzählte ebensowenig wie der Zuhörer; das Erzählte ist es, das einerseits den Erzähler und andrerseits den Zuhörer erschafft, wie Vater und Mutter erst durch das Kind entstehen. Der Erzähler ist die Mutter, der Zuhörer der Vater, - und was ist Elternschaft anderes, als ein immerwährender Zustand gemeinsamer Todesangst?"

Doch bleiben wir beim Roman: Die tatsächlich geschilderte Premiere führt übergangslos zurück zum 12. November 1904, zur Abschiedsvorstellung des gefeierten Bühnenlieblings Pierre de Vries, der in der Garderobe seinen jungen Freund im Affekt ermordet, danach die Feierlichkeiten zu seinen Ehren genießt, nach Hause fährt und mit seinem Dackel Sebastiaan auf dem Schoß wartet ...
Das Schlussbild zeigt Berta, Monate später, in ihrer winzigen verdreckten Amsterdamer Wohnung mit Joosts Urne: "Ja, so stehen die Dinge. Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen."

"Höchste Zeit" ist ein großteils gelungener Roman, der neben allerlei Situationskomik auch Lebensweisheiten und Einblicke in den Kulturbetrieb zu bieten hat. Bedauerlicherweise franst die ambitionierte Konstruktion allzu überstürzt aus und wirkt dadurch schlussendlich ein wenig überfrachtet. Harry Mulisch präsentiert dem verblüfften Leser ein furioses Ende mit Tücken: Vorhang zu!

(kre; 08/2017)


Harry Mulisch: "Höchste Zeit"
(Originaltitel "Hoogste Tijd")
Aus dem Niederländischen von Maria Csollány.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 1987.
Buch bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
rororo, 2002. 352 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen