Harry Mulisch: "Augenstern"


Vom Tankwart zum Schriftsteller, von Holland nach Italien und zurück: eine bezaubernde Geschichte

Im Jahr 1987 erschien "De Pupil" im Original, niedergeschrieben in Amsterdam zwischen 3. und 24. Dezember 1986 (also womöglich eine Adventgeschichte?), ein schlankes Bändchen, das dennoch einiges zu bieten hat. Harry Mulisch, zu jener Zeit längst ein bekannter Autor, gönnte sich und seiner Leserschaft das Vergnügen, den wundersamen Auftakt des schriftstellerischen Werdegangs eines blutjungen Niederländers zu schildern. Dies geschah selbstverständlich auch unter Einbeziehung seiner eigenen Lebens- und Erfolgsgeschichte. Bekanntlich war Mulisch ein Meister der Selbststilisierung, wusste Mythenbildung und historische Verschränkungen zu schätzen und war (zu Recht) stolz auf das von ihm geschaffene Oeuvre.

"Du warst", sagte sie, als hätte sie mich nicht gehört, "... vermutlich der letzte Neuling, den ich kennenlernen wollte."
Ein Autor blickt in fortgeschrittenem Alter auf jene Monate zurück, als einst die Weichen für sein weiteres Leben gestellt wurden. Weil Talent allein oft nicht ausreicht, um von der Schriftstellerei den Lebensunterhalt bestreiten zu können, beglückt sein gnädiges Schicksal den Lehrling mit einer märchenhaften Begegnung, wie er als alter Mann verrät. Doch der Reihe nach:
Der achtzehnjährige, natürlich geniale und gutaussehende junge Holländer verlässt im Mai 1945 seine vom Krieg verheerte, trostlose Heimat und reist ohne Papiere ins sonnige Rom, wo er zunächst anhand eines Lehrbuchs der Wehrmacht Italienisch lernt, in ärmlichen Verhältnissen wohnt und als Tankwart Arbeit findet, jedoch in der Freizeit um sein schriftstellerisches Werk bzw. mit diesem ringt.

Doch ist das Glück dem Jüngling hold, denn im August 1945 wird er von der reichsten Frau der Welt quasi vom Fleck (von der Tankstelle) weg als Gesellschafter der betagten Dame engagiert: "Steig ein, mein Lieber. Für dich weiß ich einen Parnass".
Er begibt sich also im Gefolge Mme. Sasseraths auf die Insel Capri. Das luxuriöse, sorgenfreie Dasein in der mit zahllosen kostbaren Kunstwerken ausgestatteten Villa da Balia, wo sich der angehende Schriftsteller sozusagen seinem Talent stellen soll und dabei gar nicht mit seiner "Schreiberei" zufrieden ist, will er doch erheblich mehr, nämlich Wirklichkeit erfinden und ein unantastbares Werk von der Bedeutung des Vesuvs schaffen, wird nur von der Missgunst des belgischen Sekretärs und Juristen Point überschattet, der den Neuankömmling als Konkurrenten und Gefahr für seine Position einstuft.
Der junge Mann erhält von der kinderlosen Witwe des Erfinders der Sicherheitsnadel eine wöchentliche Apanage, wird gediegen eingekleidet und genießt die Wonnen des Lebens unter der südlichen Sonne, liest seiner "guten Fee" gelegentlich vor und stellt tiefgreifend-augenzwinkernde Überlegungen wie diese an: "Obwohl ich Überheblichkeit absolut nicht leiden kann, will ich nicht leugnen, dass ich oft sehr beeindruckt war, wenn ich an mich dachte. Jemanden wie mich gab es nicht alle Tage, um es gelinde auszudrücken, und wenn ich an andere Menschen dachte, musste ich manchmal lachen."
Er führt tiefgründige Gespräche mit Mme. Sasserath, die im Lauf ihres langen Lebens auch Berühmtheiten wie Franz Liszt, Einstein, Oscar Wilde und fünf Päpste gekannt hat, streunt durch die Stadt, entdeckt ein gutes Café, lernt andere künstlerische Exilanten kennen und vergnügt sich eine Zeitlang mit einer Töpferin aus Luxemburg.

Mme. Sasserath wird zunehmend kränklicher und "durchsichtiger", die Besuche des Arztes Michelangelo Felice in der Villa häufen sich, doch als "de pupil" mit seiner genialen Traumtherapie den berühmten italienischen Professor, der vergeblich Mme. Sasseraths Schlaflosigkeit medikamentös zu bekämpfen suchte, aussticht und der alten Dame zu köstlichem Schlummer verhilft, verspricht sie ihm (wie man es aus Märchen kennt): "Ich werde dich belohnen, mein Lieber".
Dass diese Belohnung nicht materieller Natur sein kann, liegt auf der Hand, denn der angehende Künstler, dem kurzzeitig sogar der Ruf eines Wunderheilers anhaftet, strebt wie erwähnt bedingungslos nach Höherem!

Und tatsächlich geht es hoch hinaus: Mme. Sasserath ließ nämlich einen Sessellift (selbstverständlich hat die Anlage die Form einer Sicherheitsnadel!) auf den Vesuv als Monument für den verstorbenen Alphonse und als Geschenk an Italien errichten. Die Einweihungsfahrt will Mme. Sasserath auschließlich in Gesellschaft des jungen Niederländers unternehmen, doch bevor es soweit ist, gewinnt "il pupillo olandese" (wobei sich viele Menschen ein völlig falsches Bild von der besonderen Beziehung zwischen ihm und Mme. Sasserath machen: junger, fescher Habenichts und reiche, alte Frau; jaja, da weiß man doch gleich Bescheid!) grundlegende Einsichten, was die Schriftstellerei anbelangt, und muss von einem Augenblick auf den nächsten vor hochkarätigen Festgästen und jubelnden Leuten (selbstverständlich auf Italienisch!) die Sessellift-Eröffnungsrede im Rahmen einer feierlichen Ehrung der Wohltäterin halten - und was für eine Rede: voller Temperament, Überschwang und Übertreibungen; wähnt er sich doch unantastbar.
Wie schnell die Bewunderung der Festgäste ins Gegenteil umschlagen kann, erfährt der junge Mann nur zu bald. Nach der Eröffnungsfahrt mit dem Sessellift, der Schlüsselszene des kleinen Romans, ist nichts mehr wie zuvor, denn Mme. Sasserath ist und bleibt einfach verschwunden, während "de pupil" gespenstische Gestalten, die ihm irgendwie bekannt vorkommen (eingefleischte Mulisch-Leser erkennen sie sowieso), in den vom Gipfel herunterfahrenden Sitzen des Lifts erblickt: Mme. Sasseraths Belohnung, ein Ausblick auf seine zukünftigen Romanfiguren!

Das spurlose Verschwinden der Gönnerin bringt den plötzlich (doch nur vorübergehend!) völlig entzauberten Niederländer schlagartig in eine ebenso gefährliche wie bedrohliche Situation, denn man sucht einen Schuldigen, und die Stimmung köchelt! Doch erneut vermag der Jüngling, eine überzeugende Rede an die nunmehr Aufgebrachten zu richten. Eine Suchaktion wird durchgeführt, und während die Carabinieri ausschwärmen, sprechen die Wartenden stundenlang tüchtig dem mitgebrachten Wein zu, erörtern die Lage, geraten ins Philosophieren, und schließlich löst sich die Versammlung auf.
Der junge Mann beschließt, unverzüglich in seine Heimat zurückzukehren, lässt sich seine Sachen bringen und seine Manuskripte vernichten: "Ich dachte daran, dass ich in einigen Tagen in Holland wieder plumpe Sätze hören, gewöhnliches germanisches Bier trinken, Kartoffeln auf eine Gabel spießen und in beschränkte Visagen sehen müsste, aber das war der Preis, den ich dafür bezahlen musste, dass ein Schriftsteller in erster Linie in einer Sprache wohnt und damit dem zugehörigen Land ausgeliefert ist."
Auch köstliche Passagen wie beispielsweise diese: "In einem grünen Lodenmantel und einer karierten Mütze versuchte der Angestellte, sich das Aussehen eines Gentleman zu verleihen, brachte es aber nicht weiter als bis zum Deutschen" und "Schreiben wollte ich, das Geld würde dann schon von ganz alleine kommen. Und wenn es ausbliebe, wäre das nur um so beschämender für das Geld." betören mit dem bewährten speziellen Mulisch-Charme.

"Augenstern" ist eine sehr unterhaltsame kleine Geschichte, die mit märchenhafter Poesie bezaubert und mit selbstironischer, großspuriger Künstlerpose erheitert.

(kre; 07/2017)


Harry Mulisch: "Augenstern"
(Originaltitel "De Pupil")
Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt.
rororo, 2002. 114 Seiten.
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