Peter Marginter: "Der Kopfstand des Antipoden"
Philosophische Turnübungen
in einem österreichischen Grenzstädtchen und auf einer entlegenen
Insel
Am 18. Dezember 2016 erschien anlässlich des 50. Todestages Heimito von
Doderers in der "Wiener Zeitung" unter der Überschrift "Des Meisters
Randnotizen" ein interessanter Artikel von Gerhard Hubmann, der in
erster Linie die Hintergründe einer aufgrund unglücklicher Umstände
letztlich nicht mehr zustandegekommenen Rezension Heimito von Doderers
zum Gegenstand hat. Rezensiert werden sollte damals Peter Marginters im
Sommer 1966 erschienener Debütroman "Der
Baron und die Fische", doch tragischerweise starb Heimito
von Doderer am 23. Dezember 1966 vor Fertigstellung seiner
Besprechung.
Die Bücher des mit seiner Frau Eva in Bad Fischau-Brunn wohnhaft
gewesenen Schriftstellers, Übersetzers und Diplomaten DDr. Peter
Marginter (1934-2008) sind weitgehend in Vergessenheit geraten und
heutzutage beinahe nur noch antiquarisch erhältlich, was sie zu raren
Sammlerobjekten macht.
Marginters Stärken waren neben stimmigen Situationsbeschreibungen vor
allem treffliche Momentaufnahmen österreichischer Zustände und
Befindlichkeiten. Aufs Korn genommen wurden z.B. Standesdünkel, allzu
biedere Lebensweisen und Spießbürgertum; man könnte anmerken: quasi von
feuilletonistischem Atem beseelt.
Während "Der Baron und die Fische" ebenso überzeugend wie mitreißend
beginnt, jedoch mit Fortdauer der Handlung an Realitätsbezug, Tempo und
Dichte einbüßt, gelingt "Der Kopfstand des Antipoden" im übertragenen
Sinn erst nach längerem Anlauf, bis schließlich der schriftstellerische
Sprung ins Gewisse stattfindet. Die Landung jedoch erfolgt, muss man
leider anmerken, im Vagen.
"Sechs Piraten mit ebensovielen Räuberbräuten, die am Spieß ein
Spanferkel (einen Touristen?) brieten, im Hintergrund Sand, Palmen
und Meer. TOHUBOWAHU.
Da hatte ich es, Schwarz auf Weiß: TOHUBOWAHU. 'Urlaub wie Robinson!'"
(S. 202, 203)
Der meistens unscheinbare, manchmal jedoch schneidend direkte Grübler
Dr. Klemens Wagering ist einer von 76 auf einer entlegenen Insel
("Tohubowahu") gestrandeten Abenteuerurlaubern. Die Schar der
unfreiwilligen Langzeitaussteiger erwartet vergebens die Ankunft jenes
Schiffes, mit dem die Rückreise angetreten werden soll. Angeblich ist
ein Weltkrieg ausgebrochen, doch die Neoinsulaner haben in einem Anfall
von Zerstörungsrausch alle Verbindungen zur Außenwelt gekappt, verfügen
daher über keinerlei Kenntnis von den Vorgängen anderswo auf dem
Erdball. Einzig der seltsame Eigenbrötler Mr. Belcher scheint mehr zu
wissen, gibt jedoch keine Details preis und verschwindet zu allem
Überfluss bald spurlos.
Aufgrund der erzwungenen Isolation, die jedoch nicht wie so oft in
derartigen Roman- oder Filmsituationen für bange Spannungen sorgt,
sondern lediglich als Rahmen dient, bilanziert der im philosophisch
inspirierten Dauerwelterklärmodus befindliche Dr. Wagering sein
bisheriges Leben und legt Karteikarten an, auf denen er Daten über die
anderen Urlauber sammelt. Schulzeit, Matura, Präsenzdienst, die
naturgemäß mit allerlei Peinlichkeiten behaftete erste Liebe Ella, die
daraus resultierenden familiären Turbulenzen, als sich die
Pharmaziestudentin Ella für den Bruder entscheidet ...
Bald nach einer einseitig verlaufenen Aussprache mit dem Vater kommen
Klemens' Eltern bei einem fremdverschuldeten Autounfall ums Leben,
wodurch der junge Mann unverhofft zu relativem Reichtum gelangt, sein
Philosophiestudium Anfang der 1970er-Jahre in Wien mit der Dissertation
"Wittgensteins Weltbild" abschließen sowie eine Affäre mit der
erfahrenen Ingeborg ausleben kann und sich fürderhin nicht großartig um
seinen Lebensunterhalt sorgen muss. Eben ein gekorener Philosoph.
Beim Begräbnis der Eltern erscheint ein geheimnisvoller Fremder, den
Klemens' ererbter Ring und dessen Macht offenbar besonders
interessieren, wie überhaupt die Familiengeschichte mit einigen
magischen Momenten bestückt zu sein scheint, doch führen diese Motive in
weiterer Folge bedauerlicherweise ein Schattendasein.
Der anno 1985 erschienene Roman "Der Kopfstand des Antipoden" erinnert
in manchen Passagen dezent an Thomas Bernhards freilich wesentlich
beharrlicheres "Gehen" aus dem Jahr 1971: Hier wie dort verkündet ein
zumindest nach eigenem Gutdünken rundum wohlgeratener, mit allen Wassern
gewaschener eloquenter Denker Ereignisse und Schlussfolgerungen aus
seiner höchstpersönlichen Praxis, woraus sich nicht nur (vermeintlich?)
allgemeingültige Weisheiten, sondern zwangsläufig auch absurde Wendungen
ergeben, wenn nämlich das wasserfallartige Schwadronieren die
Konzentrationsfähigkeit des Adressaten wiederholt auf eine harte Probe
zu stellen droht.
Als Beispiel eine Passage aus "Gehen": "(...) Wenn wir uns selbst
beobachten, beobachten wir ja immer niemals uns selbst, sondern immer
einen andern. Wir können also niemals von Selbstbeobachtung sprechen,
oder wir sprechen davon, daß wir uns selbst beobachten als der, der
wir sind, wenn wir uns selbst beobachten, der wir aber niemals sind,
wenn wir uns nicht selbst beobachten und also beobachten wir, wenn wir
uns selbst beobachten, niemals den, welchen wir zu beobachten
beabsichtigt haben, sondern einen Anderen."
So wird es wohl sein, und alle Klarheit will ohnedies tiefe, tiefe
Ewigkeit.
Wohl nicht von ungefähr dient der reizlosen Rahmenhandlung das Eiland
"Tohubowahu" als Bühne, denn die bislang geltenden Ordnungen geraten
völlig aus dem Gefüge, und wer könnte diesem Daseinssturm wohl besser
standhalten als ausgerechnet ein abgebrühter Wiener Doktor der
Philosophie, nicht wahr?
Dr. Wagerings rückblickende Aufzeichnungen werden selten von aktuellen
Ereignissen auf der Insel unterbrochen, überwiegend ist sein bisheriger
Lebenslauf Thema, und der Memoirenschreiber wird auch nicht müde, auf
seine Verdauungsprobleme sowie seinen überaus bescheidenen Lebensstil
hinzuweisen.
Der Herkunft des offenbar auf besondere Weise mit der Geschichte der
Eltern verbundenen auffälligen Rings nachspürend, entdeckt Dr. Wagering
scheinbar zufällig in einem Wiener Antiquitätengeschäft dessen
"weibliches Pendant", lässt sich bald darauf ebenfalls scheinbar
zufällig in einem aus Gründen der Geheimniskrämerei nur mit "X"
bezeichneten Grenzstädtchen nieder und stellt unverzüglich fest, dass
ihm "X" seltsam vertraut erscheint. Es kommt zur ersten leibhaftigen
Begegnung mit der vielleicht Seelenverwandten, nach Essig und Heu
duftenden Hortense Maiotis/Lobmeyer, der in weiterer Folge eine
bedeutende Rolle (und sei es nur in der Fantasie des Erzählers) zufallen
wird. Weiters ergeben sich Bekanntschaften mit dem einstigen Diener des
verstorbenen Grafen Heussenstein, der ganz spezielle Führungen durch das
leergeräumte Schloss anbietet, dem als Pfarrer tätigen ehemaligen
Rennfahrer Thomas Mohr, der sich als angemessener Diskussionspartner
erweist, und zahlreichen anderen Ortsansässigen.
Unterbrochen von einer Szene, in welcher die erneute Zerstörung des
zuvor von einigen Bastlern mühsam reparierten Empfangsgeräts auf der
Insel sowie Traumerlebnisse Dr. Wagerings geschildert werden, steht
allerdings weiterhin sein Alltagsleben in "X" im Mittelpunkt: Ein
Torgebäude mit tragischer Geschichte, die Einmietung in einer Jagdhütte
in "X", seine inflationsbedingten Sparmaßnahmen, der Erwerb eines
Wohnhauses von einer als Hexe verrufenen Frau ...
Weil sich seine finanzielle Situation immer mehr zuspitzt, gründet Dr.
Wagering im Alleingang das "Institut für Schicksalsforschung" (eine Art
philosophische Lebensberatungsstelle), um durch Spenden sein Auslangen
zu finden - das österreichische Subventionsunwesen lässt wohl grüßen.
Endlich bringt eine im Schlossteich gefundene Flaschenpost, datiert mit
"Tohubowahu, 25. April 1921" ein wenig Licht und vor allem frischen
Schwung in die Geschichte, und Dr. Wagering nimmt seine vermeintliche
oder tatsächliche Berufung zum Nachfolger des einstigen
Historienerfinders des Eilands an. Er vernichtet beinahe alle über
sämtliche Bewohner von "X" angelegten Karteikarten und bereitet sich
darauf vor, das umfangreichen Modernisierungen ausgesetzte Städtchen an
der Grenze zu verlassen.
Doch Dr. Wagering stolpert über ein Kabel und stürzt in einen wertvollen
Spiegel, der zu Bruch geht. Danach gibt es Dr. Wagering plötzlich gar
zweifach, somit findet auch noch das Doppelgängermotiv Eingang in den
Roman. Der eine Klemens wird also abreisen und künftig auf der anderen
Seite der Erde kopfstehender Antipode sein (dabei weiterhin nichts von
der Existenz seines sozusagen druckfrischen Doppelgängers ahnen), der
andere Klemens plant anscheinend listig, in "X" zu bleiben, wo sich am
Abend der Entscheidungen auch Hortense, die Trägerin des zweiten
"Schlangenrings" einfindet.
Das abrupte Ende des Romans bietet Raum und Stoff für Romantik,
Philosophie - und wohl leider auch Enttäuschung.
Getrübt werden der Lesefluss und die ohnedies nur zaghaft aufkommende
Atmosphäre durch mehr störende als fördernde und den Erzähler mitsamt
Romankonstruktion förmlich aushebelnde Passagen, z.B.:
"Als Bildungsbürger ist mir zu unserer Situation selbstverständlich Thomas Mann
eingefallen, Joseph
Roth, Vicki Baum, William Golding, Johann Gottfried Schnabel -:
Nicht alle in einem Atem, jeweils mit Vorzeichen und Abstrichen. Die
isolierte Gruppe war ein beliebtes Thema für Literaten. Sehr
plausibel, wenn man bedenkt, daß die Variationen, die es gestattet,
praktisch unerschöpflich und endlos sind, jeder mit jedem und alle
zusammen, und als Spielfeld nicht etwa ein Schachbrett, sondern
irgendein Sandkasten nach Belieben des Autors." (S. 78)
"Ein Romanschreiber - er heißt Marginter und wäre, wie ich ihn
kannte, sicher dankbar, wenn ich ihn hier nenne - hat mir einmal, als
wir uns über dieses Thema unterhielten, auf seine umständliche, der
Länge und Gewundenheit von Romanen entsprechende Weise
auseinanderzusetzen versucht, daß es eine deutliche Parallelität
(sic!) auch zwischen dem Umsichgreifen von Fortschritts- und
Wissenschaftsgläubigkeit und einer Diskreditierung des besonderen Zufalls
in der Literatur gibt." (S. 95)
Auch aus heutiger Sicht ist begreiflich, dass "Der Kopfstand des
Antipoden" damals nicht an den Erfolg von "Der Baron und die Fische"
anschließen konnte, denn das in Ansätzen verheißungsvolle Konzept wirkt
insgesamt nicht schlüssig, die zahlreichen guten Einfälle wurden nicht
entsprechend entwickelt, und etliche interessante Motive verwelken im
philosophischen Geplapper der überstrapazierten Hauptfigur.
Dennoch ist "Der Kopfstand des Antipoden" zumindest stellenweise
interessant zu lesen (Lokalkolorit!), und man bedauert aufrichtig, dass
Peter Marginter sein Potenzial nicht ausgeschöpft zu haben scheint.
(kre; 03/2017)
Peter Marginter: "Der Kopfstand des
Antipoden"
Klett-Cotta, 1985. 217 Seiten.
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