Mira Magén: "Zu blaue Augen"
Von
der Sehnsucht nach Leben und der Notwendigkeit der Veränderung
Mit siebenundsiebzig Jahren beschließt Hannah Jona, sich das
Haar schwarz zu färben, ihren drei Töchtern die
demenzkranke alte Frau im Rollstuhl vorzuspielen und nachts das Leben
in vollen Zügen zu genießen, was auch immer es noch
für sie zu bieten habe. Denn Hannah Jona ist sich sicher: Gott
hat sie nicht zum Däumchendrehen noch im letzten Moment vor
der Grube gerettet. Sie lässt sich von keinem sagen, was sie
zu tun und zu lassen hat, schon gar nicht von den Bauunternehmern, die
nach ihrem Grundstück geifern und vor nichts
zurückzuschrecken, um es zu bekommen. Die verwitwete Hannah
Jona mit den zu blauen Augen hat nämlich nur das Leben im Sinn.
"Er stand vor ihnen wie vor einem Gericht. Alle drei
saßen auf der Treppe und musterten ihn von den Wurzeln seines
schütteren Haars bis zu den Schnürsenkeln einer
abgetragenen Schuhe. Er senkte den Blick und dachte, drei Frauen, die
die Nachricht, es gebe einen neuen Mieter, so aus der Fassung bringt,
als wäre ein Terrorist eingedrungen; diese drei sind wohl die
harten Nüsse hier. Er sah, wie sie ihn ganz ungeniert
taxierten, und dachte, sollen sie doch, sie sehen nur meine Kleider,
sonst nichts."
Ihren Töchtern hat Hannah Jona die blauen Augen nicht vererbt.
Nur die harte Schale und diese Sehnsucht nach Liebe hat sie ihren
Töchtern Orna, Jardena und Simona weitergegeben. Sie alle
leben unter demselben Dach und sehnen sich nach dem Leben so wie ihre
Mutter. Auch auf den neuen Untermieter, Rafi, hat das Haus eine
magische Wirkung. Doch Johanna, die rumänische Pflegerin,
traut ihm nicht und scheut keine Mühe, rote Tücher
und Stoffe vor die Hauswand zu hängen, um sie alle vor dem
bösen Blick und vor Unheil zu bewahren.
Die Charaktere aus Mira Magéns Roman entspringen dem echten
Leben. Sie sind bodenständig, ruhelos, verzweifelt,
unermüdlich und sehnsüchtig. Magéns
Figuren sind nicht nur facettenreich, sondern auch ehrlich und manchmal
unbarmherzig. Sie sind Menschen, die uns im täglichen Leben
begegnen, und manchmal erkennen wir uns sogar selbst in ihnen wieder,
wenn wir uns in Mira Magéns Roman verlieren.
Ob es nun der böse Blick ist, der ihnen ihr Glück
nicht vergönnt, oder sich die Protagonisten vielleicht doch
selbst im Weg stehen, der Roman wirft jedenfalls eine universelle Frage
auf: Wie finden wir unser Glück,
und wo versteckt es sich
überhaupt? Während sich die Figuren im Roman auf die
Suche nach dieser Antwort machen, beginnt auch der Leser sich mit der
Frage zu beschäftigen.
Denn als sich das Haus Jona einer ungeahnten Veränderung
unterzieht, Hannah Jona bei der Entdeckung eines Geheimnisses ihre
Zukunft findet, Jardena einen längst fälligen Schritt
tut, Orna sich in die Ferne aufmacht und Simona eine Spende
erhält, bleibt auch dem Leser die Lust auf
Veränderung nicht erspart.
Mira Magéns Schreibstil hat einen unvergleichlichen Charme,
mit dem sie ihren Charakteren Leben einhaucht. Sie sind Figuren aus der
Realität, die sich weigern, sich vom Alter oder von Krankheit
unterkriegen zu lassen, während sie sich auf die Suche nach
ihrem Glück begeben.
(Sabrina Brugner; 05/2017)
Mira
Magén: "Zu blaue Augen"
Aus
dem
Hebräischen von Anne Birkenhauer.
dtv premium, 2017. 384 Seiten.
Buch
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Mira Magén, in Kfar Saba (Israel) geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verbunden, die Stationen ihrer Biografie verraten jedoch eine Revolte: Studium der Psychologie und Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf - Lehrerin, Sekretärin, Krankenschwester und schließlich Schriftstellerin. Magén zählt neben Zeruya Shalev zu den wichtigsten Autorinnen ihres Landes.